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Das Leben in Afrika

©  Camilla Sitte


"Mami, was ist los? Ba, weißt du, was mit Mami ist?" Ein kleiner afrikanischer Junge, etwa vier bis fünf Jahre alt, betrachtete weinerlich seine Mutter, die mit geschlossenen Augen am Boden lag. Sie war eindeutig tot. "Mami, du kannst jetzt nicht schlafen. Wir müssen doch noch etwas zu Essen suchen gehen!" Der Kleine schüttelte seine Mutter vergeblich. "Wach auf, Mami!" Aber seine Mutter rührte sich nicht. "Mami! Sag doch etwas!" Große Tränen begannen dem Kleinen über das Gesicht zu strömen. Der Junge drehte sich Hilfe suchend um, er hatte kein Zuhause und lebte allein mit seiner Mutter auf der Straße. Er war als armer Junge aufgewachsen. Der tägliche Kampf um Nahrung war hart, trotzdem hatte seine Mutter immer ein paar Krümelchen Essen für sich und ihn finden können. Satt wurde er davon zwar nicht, aber es reichte zum Überleben. Doch woher seine Mutter es hatte, wusste der Junge nicht. Sie war immer für ein paar Stunden verschwunden, während er um Nahrung gebettelt hatte. Aber nie hatte er etwas bekommen. Die Afrikaner waren nicht geizig gewesen, aber die meisten hatten selber Mühe, sich und ihre Kinder in diesem armen Land zu ernähren. Plötzlich rempelte ihn ein Mann an. "Vorsicht, Junge! Was tust du denn da?" "Mami...", schluchzte der Kleine. " Sie ist tot, Junge. Geh zu deinen Verwandten", mit diesen Worten ließ ihn der fremde Mann stehen. Der kleine Junge blickte ihm verwirrt nach. Er hatte niemanden außer seiner Mutter. Sie war die Einzige. Nein, einen hatte er noch! Fast hätte er ihn vergessen! "Ba, was soll ich denn jetzt tun?" Ba war sein Stofftier. Eigentlich konnte man es nicht Stofftier nennen, es bestand aus einem zerfetzten Tuch, seine Arme und Beine sowie sein Kopf waren mit Schnurstücken abgeschnürt und irgendwo war undeutlich ein Gesicht erkennbar. Einen Schwanz hatte das seltsame Viech auch. Und es war ohne jeden Zweifel hässlich. Aber der kleine Junge liebte das Tier und hatte es Ba genannt. Für ihn war Ba lebendig. "Was mach ich jetzt, Ba? Ich habe Hunger und ich weiß nicht, woher ich Essen nehmen soll. Was würdest du tun, Ba?", der Kleine kuschelte sich an das hässliche Viech. "Ich könnte betteln, aber die Leute geben mir nie etwas.", seufzte der Junge. Aber es war wahrscheinlich das Einzige, was er tun konnte. Deshalb hockte er sich auf den Straßenrand, wo viele Leute vorbeigingen, und formte seine kleinen Hände zu einer Schüssel, die er den Leuten flehend hinstreckte. Viele eilten vorbei, ohne auf ihn zu achten, mache bemerkten ihn nicht einmal. Die Leute hatten selbst genug Sorgen, als dass sie einem kleinen Straßenjungen Geld geben könnten. Der Junge wurde ignoriert, von manchen vielleicht mitleidig betrachtet, aber dabei blieb es. Als es Abend wurde, waren die Hände des Jungen noch genauso leer wie am Anfang. Die Leute gingen in ihre Häuser und verschwanden nach und nach, bis die Straße leer war, und nur noch wenige ebenso heimatlose Menschen herumlungerten.
Der Kleine zog sich ein Stück von der Straße zurück, wo seine Mutter gelegen hatte. Sie war aber verschwunden. Irgendjemand musste sie entdeckt und woanders hingebracht haben. Der Junge hatte keine Ahnung, wo die Leichen hingebracht wurden, es kam auch vor, dass manche wochenlang liegengelassen wurden. Der kleine Junge drückte Ba fest an sich. Das Viech war das Einzige, das er jetzt noch hatte, das jetzt noch bei ihm war, und ihn davor behütete, gänzlich von der schleichenden Einsamkeit, die immer näher kam, verschluckt zu werden. Es war inzwischen dunkel geworden, der Junge hatte Angst vor der Dunkelheit. Seine Mutter hatte ihn immer beruhigt, aber sie war jetzt fort. "Jetzt musst du mich beschützen, Ba", flüsterte der Kleine dem Stoffviech zu. Ängstlich blickte er umher, versuchte, in der Dunkelheit, das erste Anzeichen von Gefahr sofort zu erkennen, falls es da war. In seiner Fantasie kamen riesige Monster mit gewaltigen Keulen auf ihn zu, die ihn fressen wollten. Immer näher kamen sie, immer mehr wurden es, sie umringten ihn, hoben ihre tödlichen Keulen und schwangen damit in der Luft herum, um mit seiner Angst zu spielen. Der kleine Junge zitterte in der Dunkelheit, hinzu kam das Knurren seines Magens, der sich darüber empörte, seit fast zwei Tagen nichts zu Essen bekommen zu haben. Ich muss einschlafen, redete sich der Junge selbst zu, ich muss einschlafen. Dann verschwinden diese Monster und mein Hungergefühl vielleicht. Der Kleine kauerte sich am sandigen Boden zusammen, Ba hatte er noch immer fest an sich gepresst. In seiner Einbildung kamen die Monster wieder, er versuchte sie zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Schließlich hörte er auf, sich dagegen zu wehren, er akzeptierte es, dass die Monster ihn fressen würden. Aber nichts geschah, da die Monster ja nur Einbildungen waren. Stattdessen verschwammen sie plötzlich, lösten sich in Dunkelheit auf. Der kleine Junge war eingeschlafen.
Am nächsten Morgen wachte er vom Getrampel der vielen Leute auf, die schon wieder unterwegs waren. Der Junge wusste, wenn er heute nichts zu essen bekam, würde es kein gutes Ende nehmen. Sein Magen begann sofort zu knurren, als er sich aufrichtete und ein Schwindelgefühl machte sich in ihm breit. Er fühlte sich schwach, aber er musste betteln, damit ihm die Menschen Geld gaben, von dem er sich zu Essen und zu Trinken kaufen konnte. Er streckte seine Hände den vorbeieilenden Menschen entgegen, jedoch ohne Erfolg. Den ganzen Morgen hoffte er auf Geld, den ganzen heißen Mittag über und auch am Nachmittag hatte er noch Hoffnung. Aber er bekam nichts. Enttäuscht und erschöpft ließ er seine Hände sinken. Die Menschen in diesem Teil von Afrika waren einfach zu arm. Trotzdem musste er irgendwie zu essen und trinken kommen. Wackelig stand er auf und ging ein paar schritte, bis er den nächsten Markt fand. Es war ein kleiner Markt, armselig, mit wenigen Waren, die fast zu teuer waren, als das die Leute sie sich hätten leisten können. Wochenlang musste für eine Dattel gespart werden. Der Junge sah einen Dattelstand mit einigen Früchten vor sich. Er wusste, dass es verboten war, aber er fühlte sich vom Hunger schon so geschwächt, dass ihm alles egal war. Mit einem schnellen Griff schnappte sich der kleine so viele Datteln, wie er nur fassen konnte. Natürlich sah ihn der Verkäufer. "Stehen bleiben, du dreckiger Dieb!", schrie er und verfolgte den Kleinen. Von Hunger geschwächt, konnte er nicht so schnell rennen und der Dattelverkäufer war ihm dicht auf den Fersen. Er rannte schneller als der kleine Junge und hatte ihn bald eingeholt. Unsanft warf er den armen Jungen in den staubigen Sand und drückte ihn zu Boden. Der Junge wurde verprügelt. Dann nahm der Verkäufer die gestohlenen Datteln wieder an sich und kehrte, noch immer aufgebracht, zu seinem Stand zurück.
Der Kleine hatte keine Kraft mehr, aufzustehen und blieb liegen, wo der Mann ihn hingeworfen hatte. Tränen rannten ihm übers Gesicht. Ihm tat alles weh und er fühlte sich so unendlich schwach. Zum Glück hatte er Ba mitgenommen. Ohne ihn wollte er nicht sterben. Er wollte nicht alleine sterben. Jemand musste bei ihm sein, sonst würde er sich einsam fühlen. Der kleine Junge war bereit dafür, er wusste nicht, was ihn erwartete, er wusste nur, dass es eine Erlösung sein würde. Er würde sein qualvolles Leben, das voll von Hunger und Leid war, hinter sich lassen, und in eine neue Welt eintauchen. Eine Welt, in der es Hunger und Durst nicht gab, in der Armut ein Fremdwort war und in der er seine Mutter wiedersehen würde. Das war seine Vorstellung des Jenseits, die Vorstellung eines 4-5-Jährigen, der einfach nur leben wollte, aber ohne das, was ihn traurig machte. Er hatte keine Angst vor dem Tod, denn es war ihm klar, dass es nicht mehr schlimmer als jetzt werden konnte. Und selbst wenn es danach zu ende war, es war besser tot zu sein, als mit Hunger und Armut zu leben.
Der Kleine schlief langsam ein. Er träumte, dass er auf einer riesigen, grünen, saftigen Wiese war, überall waren Apfelbäume, Kirschenbäume, Birnenbäume mit Unmengen von Früchten, irgendwo plätscherte ein Fluss, Schmetterlinge flogen herum und die Sonne schien so freundlich, wie sie es noch nie getan hatte. Inmitten dieser Pracht stand ein kleines Häuschen. Die Tür öffnete sich von ihnen und der Junge sah seine Mutter, die ihm fröhlich zuwinkte, er solle kommen, das Essen sei fertig. Essen! Das war für ihn das größte Glück. Aber war das überhaupt ein Traum? Am Marktplatz, im Sand lag ein kleiner toter Junge, der verhungert war, neben ihm lag sein bester Freund, der ihn nie verlassen hatte, das Stofftier Ba.



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