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Unterwegs in Madagaskar
© Nadine Muriel
Madagaskar. Fremdartig, geheimnisvoll, unbekannt. Schon allein der Name klingt nach Fernweh und Abenteuer, wie ein verheißungsvolles Versprechen... Vor drei Tagen bin ich hier angekommen, und noch immer habe ich das Gefühl, abrupt in eine vollkommen andere Welt gestolpert zu sein.
Ich sitze vor einem winzigen Kiosk und balanciere auf meinen Knien einen Teller mit Bohnen und Reis. Mit diesem zwar geschmacksneutralen, aber immerhin sättigenden Mahl will ich mich von einer anstrengenden Wanderung erholen, ehe ich mit dem Taxi Brousse, dem so genannten "Dschungeltaxi", weiterfahre nach Ankarana.
Bei meinem Taxi Brousse handelt es sich diesmal um einen Pritschenwagen, wie sich kurz darauf herausstellt. Zahlreiche Hände strecken sich mir hilfsbereit entgegen, als ich versuche, die Ladefläche zu erklimmen. Dunkle Gesichter strahlen mich herzlich an. Es ist nicht so einfach, einen Sitzplatz zu finden, denn auf dem Boden des Gefährts stehen dicht an dicht große Plastikbottiche voll glatter, sich windender Fische, so dass dort keine freie Fläche mehr ist. "Du hast einen ungünstigen Moment erwischt, Vazaha",
grinst eine junge Frau im buntbedruckten Wickelrock, deren Haar zu zahllosen kleinen Zöpfchen geflochten ist, "das hier ist genau die Zeit, wenn die Fischer vom Meer zurückkehren und ihren frischen Fang ins Inland bringen..."
Der Geruch, der sich unter der niedrigen Plastikplane entwickelt hat, ist atemberaubend. Jemand bringt einige schmale Bretter, die wir über die Kübel legen. Mit angewinkelten Beinen nehme ich darauf Platz, ängstlich bedacht, bloß nicht mit meinen Füßen die glibberige, schuppige, wenig appetitliche Masse unter mir zu berühren. Es ist nicht gerade eine bequeme Haltung... Bei der "Straße" handelt es sich lediglich um eine Schneise, die in den Dschungel geschlagen wurde, und so hüpfen wir ununterbrochen
über kleine Hügel und Steine oder rattern durch Schlaglöcher. Der Fahrer legt sich vehement in die Kurven und bremst immer wieder abrupt, so dass ich mich mit aller Kraft an meiner schmalen Planke festklammern muss. Ständig drohe ich abzurutschen und zwischen die glitschigen Fischleiber zu fallen. Meine beiden madagassischen Nachbarinnen, die rittlings neben mir thronen und lässig ihre Beine in die Eimer strecken, nehmen an meinen Bemühungen regen Anteil, sprich: Begeistert versuchen sie, mich festzuhalten, ziehen
und zerren an mir, lachen fröhlich, haben an der ganzen Situation einen Riesenspaß und merken gar nicht, dass es mir dadurch nur noch schwerer fällt, mich festzuhalten. Immer wieder stoppt das Taxi Brousse, um weitere Fahrgäste samt Gepäck aufzulesen. Schließlich zählen wir auf der Pritsche zweiundzwanzig Personen, dazu kommen sechs Autoreifen, ein Fahrrad, mehrere Säcke von riesenhaften Ausmaßen sowie die besagten Fischeimer. Der Platz wird irgendwann so eng, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als es meinen
madagassischen Mitreisenden gleichzutun und die Beine in einen der Bottiche zu versenken. Man mustert mich argwöhnisch, mit einem schadenfrohen Grinsen, wie mir scheint, und wartet offenbar nur darauf, dass ich Angst oder Ekel zeige. Aber von wegen! Fest beiße ich die Zähne zusammen.
So fremd ist diese Situation, so vollkommen anders als alles, was ich je erlebt habe... Mit einem Mal bin ich nicht nur meinem bisherigen Leben in Europa, sondern auch mir selbst, meiner eigenen Persönlichkeit so fern... Bin nur noch irgendeine namen- und existenzlose Reisende zwischen den sich stetig drehenden Rädern der Augenblicke, so winzig, so unbedeutend angesichts der Größe und Vielfalt der Welt... Und ich weiß plötzlich, nach dieser Reise wird für mich auch zu Hause nie wieder etwas so sein, wie es war...
Eine Vorstellung, die mir gleichzeitig Angst macht und mich in euphorische Freude versetzt. Welche Beziehung habe ich in diesem Augenblick noch zu all dem, was mir einst so wichtig erschien? Ich muss laut auflachen. Das Gefühl einer rauschhaften, wagemutigen Freiheit und Abenteuerlust macht sich in mir breit und verdrängt jede Unsicherheit.
Meine Nachbarin lacht fröhlich mit. Generell habe ich den Eindruck, dass man mir jetzt, da ich bewiesen habe, dass ich keine empfindliche, verzärtelte Vazaha bin, großes Wohlwollen entgegenbringt.
Wir halten an einer größeren Taxi-Brousse-Station. Die Fischeimer werden ausgeladen. Dafür steigen nun weitere Fahrgäste ein, die von den übrigen Passagieren lautstark begrüßt werden. Jetzt sitze ich halb auf dem Schoß einer korpulenten Mitreisenden mit ausladenden Hüften. Irgendjemand drückt mir einen Hahn in die Arme, der zunächst unentwegt kräht und nach meiner Nase pickt, sich nach einer Weile aber zum Glück wieder beruhigt. Unser Fahrer rollt die Plastikplane nach oben, so dass ich nun ungehindert das rege
Treiben draußen beobachten kann... Taschen, Körbe und Kästen werden in diverse Fahrzeuge geladen oder mit groben Stricken auf deren Dächern festgezurrt. Aus einem Sack rieseln Reiskörner auf den Boden, die von frei umherlaufenden Ziegen und Hühnern sofort gierig aufgefressen werden. Ein muskulöser Mann mit vor Schweiß glänzendem Oberkörper ist gerade damit beschäftigt, einige Bretterkisten mit ängstlich gackernden Gänsen auf das Dach eines rostigen Pritschenwagens zu hieven. Andere Gänse haben noch weniger Glück
bei ihrer Reise: Mit zusammengeschnürten Beinen wurden sie, den Kopf nach unten, an der Seitenwand eines Taxi Brousse festgebunden und zappeln jetzt verzweifelt, um sich aus dieser unangenehmen Lage zu befreien.
Dann fahren wir weiter. Der aufkommende Wind kühlt den Schweiß auf meinem Gesicht. Draußen zieht im Dämmerlicht die Landschaft vorbei. Niedrige, ockerfarbene Gräser bedecken die rote Ebene. Hin und wieder ein kärglicher Strauch. Meine Gedanken werden verschwommener, unklarer, bis ich nur noch vor mich hin döse und das Dahingleiten durch die laue afrikanische Nacht genieße. Irgendwann muss ich wohl ganz eingeschlafen sein, denn ein heftiger Ruck weckt mich abrupt auf. Das Taxi Brousse hält. Jemand rüttelt an
meiner Schulter. "Los, du musst aussteigen!" Der Hahn kräht empört, als er meinen Armen entrissen wird. Benomen taumele ich auf die Straße Tiefe Schwärze umfängt mich. Ich kann die Hand nicht vor den Augen sehen. Irgendwer drückt mir ein voluminöses, längliches Etwas in die Arme, und ich vermute, dass es sich um meinen Rucksack handelt. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Müdigkeit benebelt meine Sinne. In der Ferne höre ich Schritte, die durch trockenes Gras schlurfen. Blind tappe ich dem Geräusch
entgegen, viel zu erschöpft, um mich über irgendetwas zu wundern. Mein Rücken schmerzt von der eingeengten, unbequemen Fahrt im Taxi Brousse. Plötzlich sehe ich einen winzigen, leuchtenden Punkt, der sich zielstrebig auf mich zu bewegt... Ein Mann mit einer flackernden Kerze kommt mir entgegen. Erst als er direkt vor mir steht, kann ich sein schmales, ebenholzschwarzes Gesicht mit den tiefen Furchen erkennen. "Willst Du nach Ankarana?" erkundigt er sich, und ich nicke. "Dann komm mit. Ich bin Jeo,
der Besitzer der Unterkünfte. Lalao hat mir Bescheid gesagt, dass du heute kommst." Ich stolpere unbeholfen hinter ihm her und kann es kaum fassen, dass tatsächlich hier, in diesem fremden, mir völlig unbekannten Land, ein Mensch auf mich gewartet haben soll. Fröhliche Stimmen wehen jetzt zu uns herüber. Irgendwo flackert ein Feuer. Ja, endlich sind wir angekommen! Es tut so unbeschreiblich gut, nach diesem ereignisreichen Tag an solch einen friedvollen Ort zu gelangen und so herzlich empfangen zu werden...
Jeo zeigt mir mein Nachtquartier, eine winzige Hütte aus getrockneten Bambusblättern. Neben dem schmalen Bett ist gerade mal genügend Platz, um meinen Rucksack abzustellen. Erschöpft lasse ich mich auf die Matratze fallen. Mein ganzer Körper schreit regelrecht nach Schlaf. Kaum habe ich jedoch die Augen geschlossen, ertönt direkt vor meiner Hütte ein merkwürdiges Rumoren. Was um Himmels Willen hat das zu bedeuten? Ich springe auf, verheddere mich in den Ausläufern des Moskitonetzes, reiße die Tür auf - und sehe
Jeo, der gerade damit beschäftigt ist, ein Zelt dicht neben dem Eingang zu meiner Hütte aufzuschlagen. Fassungslos starre ich ihn an.
"Hab keine Angst. Ich halte heute Wache." Er lacht. In der Dunkelheit kann ich nur seine Zähne und das Weiße seiner Augen leuchten sehen.
Mein Adrenalinspiegel schießt in ungeahnte Höhen. "Warum? Ist es hier so gefährlich?"
"Natürlich nicht... Aber denkst du, ich lasse dich an diesem fremden Ort alleine? Schließlich ist es deine erste Nacht hier", entgegnet er stolz.
Während ich mich erneut in meinen Schlafsack kuschele, höre ich, wie draußen Jeo leise vor sich hinsummt. Was soll mir mit einem so hilfsbereiten Beschützer schon passieren? Ich fühle mich mit einem Mal wohlig, geborgen und sicher. Eine ungeheure Erleichterung macht sich in mir breit. Unwillkürlich denke ich an meine Familie zu Hause, die sich so große Sorgen um mich gemacht, als ich abgereist bin, und wünschte, ich könnte ihnen auch nur einen Bruchteil dieses wunderbaren Gefühls, behütet zu sein, vermitteln.
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