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Cecils Afrika
© Claudia Siemon
Cecil starrte ins Dunkel. Zwei Jahre war er nun schon in Afrika und hatte sich noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt, die ihm so sehr viel dunkler vorkam als in seinem heimatlichen Chicago. Zwei Jahre, in denen er das Land seiner Sehnsucht kennen und lieben gelernt hatte. Zwei Jahre, in denen er ihm verfallen war. glücklich gewesen war. Und zwei Stunden, in denen er das Land und seine undurchschaubaren Bewohner hätte hassen lernen können, in denen er vom Liebhaber zum Opfer zum Liebhaber geworden war. Zwei
Stunden, in denen er dankbar war für die Dunkelheit, die das Land seinen Blicken und seine Gegenwart anderen Menschen verbarg. Cecil liebte Afrika. Das war unabänderlich.
Afrika, das Land seiner - nein, nicht seiner Geburt, ein Umstand, den er seinen Eltern (wie so vieles andere) immer verübelt hatte. Dieses Risiko waren seine Eltern nicht einzugehen bereit gewesen. Immerhin aber war Afrika das Land seiner Empfängnis, und darauf war er Zeit seines Lebens stolz gewesen, hatte sich als etwas Besonderes gefühlt.
Daran waren vor allem die fünf schwarzen Holzelefanten schuld, die seine Mutter als letztes Geschenk von Häuptling Mbuto erhalten hatte, bevor sie das Land verließ, um nach England zu fahren und ihn, Cecil, zur Welt zu bringen. Fünf schwarze Elefantenfiguren, aus einem Holz geschnitzt, das Cecil nicht zu benennen wusste, als Glücksbringer für die "Hauptfrau" des Bwana Jenner, dessen Tod Mbuto bereits geplant hatte und der den Sohn nicht mehr sehen sollte, den er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Fünf
Glücksbringer für eine Frau, die ihren Mann nicht wiedersehen, für ein Kind, das seinen Vater niemals kennen lernen sollte.
Im Juni 1933 hatte Lydia Jenners, geborene Wickham, ihren Mann verlassen, um in England die Geburt ihres Sohnes zu erwarten. Im Juli war Geoffrey Jenners von Mbutos Kriegern erschlagen worden, und im November war er in Little Penham zur Welt gekommen, dem Wohnort seines Großvaters mütterlicherseits, der wie sein Vater Kolonialoffizier in Afrika gewesen war.
Großvater Wickham hatte Vaterstelle an ihm vertreten, seinen Namen ausgewählt (kein anderer als Cecil wäre für Timothy Wickham je in Frage gekommen, dem Cecil Rhodes mehr als jeder andere Mensch auf der Welt, ja, wie Cecil zuweilen vermutete, sogar mehr als Gott gegolten hatte) und dafür gesorgt, dass er eine ordentliche Ausbildung erhielt. Für seinen Enkel hatte der Großvater auch das größte Opfer gebracht, dessen er fähig gewesen war. Als abzusehen war, dass Hitler Deutschland in den Krieg führen und England
zwangsläufig darin verwickelt sein werde, hatte er Little Penham verlassen und war mit Tochter und Enkel zu dessen väterlichen Verwandten nach Chicago gezogen. Dort hatte er das Dasein immerhin noch lange genug ausgehalten, um mitzuerleben, wie Hitler besiegt und sein Enkel an einem der renommiertesten Colleges der Ostküste aufgenommen wurde.
Für seine Studentenbude hatte Großvater Wickham ihm seine afrikanischen Erinnerungsstücke geschickt, die fortan als Cecils Eigentum sein Leben weiterhin begleiten sollten: einen Elefantenfuß als Schirmständer, ein Album mit Erinnerungsfotos aus seiner Kolonialzeit sowie einen Band seiner Memoiren, die aus endlosen Schilderungen von Kasinofestlichkeiten in einer unbedeutenden Garnison bestanden, bei denen Schwarze selbstverständlich nur in dienender Funktion Zutritt hatten, und - die fünf Elefanten, die von Anfang
an Cecils Leben beeinflusst hatten.
Diese Elefanten, auf einem Bücherbrett hintereinander herschreitend, hatten bei seinem Großvater ein beschauliches, wenn auch recht verstaubtes Leben geführt, so lange Cecil denken konnte, und seine Träume bevölkert. Woher sie kamen, dorthin wollte er, als Offizier, Eroberer, Goldsucher, Abenteurer. Auch in der Rolle eines desertierten Matrosen oder Deportierten hatte er sich sehen können, unter leichtherziger Missachtung der historischen Fakten, dass nämlich Sträflinge nach Australien, nicht aber nach Afrika
deportiert worden waren.
Während seiner Studienzeit standen die Elefanten also bei Cecil im Regal und beobachteten ihn, wurden Zeugen seiner Triumphe - er schloss seine Studien mit herausragenden Noten ab und wurde ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann -, als auch der Enttäuschung, die er für seinen Großvater werden sollte, als seine homosexuellen Neigungen immer offensichtlicher wurden und er es nicht für notwendig erachtete, ihnen aus Rücksicht auf die Ansichten seiner Familie abzuschwören.
Nach außen hin allerdings fügte sich Cecil den Regeln der Gesellschaft. Eine junge Frau aus seinen Kreisen brauchte einen Vater für ihr uneheliches Kind, und er bot ihr seinen Namen und seinen Schutz an. Mit seiner hübschen Frau und seinen beiden Kindern (Emily hatte Zwillinge geboren, einen Jungen und ein Mädchen) führte er eine vorbildliche Ehe, da Emily keine Forderungen an ihn stellte, was Liebe betraf, zutiefst dankbar war für das, was er ihr an finanzieller Sicherheit und gesellschaftlichem Ansehen gab,
und äußerst diskret in allem, was ihrem und seinem Ruf hätte schaden können.
Als Emily vor drei Jahren an Krebs starb, wunderte er sich selbst sehr über die ehrliche Trauer, die er empfand. Seine Freunde und Bekannten hatten ihn allgemein sehr bedauert, wusste man doch, dass Emily und Cecil Jenners die perfekte Ehe schlechthin geführt hatten. Niemanden nahm es daher Wunder, dass er das Leben in dem verwaisten Haus (die Kinder lebten längst ihr eigenes Leben) nicht lange aushielt und auf Reisen ging. An Geld, das war bekannt, mangelte es ihm nicht, und warum sollte er, der trotz seiner
einundsiebzig Jahre gesund und rüstig war, nicht noch etwas vom Leben haben?
Cecil fuhr nach Afrika. Wohin auch sonst? Sein ganzes Leben hatte er damit zugebracht, sich der Faszination des Schwarzen Kontinentes zu entziehen, gegen seinen Lockruf anzukämpfen. Jetzt, das spürte er, war die Zeit gekommen, diesem Ruf nachzugeben, zu tun, was er schon immer hatte tun wollen: Afrika zu entdecken. Die Elefanten hatten all die Jahre auf ihn gewartet.
Da er über genügend Geld verfügte, begann er seine Zeit in Afrika auf bequeme Weise: er buchte eine dreiwöchige Safarireise durch Kenia, wohnte in exzellenten Hotels, traf wichtige (und reiche) Menschen, beobachtete und filmte die Tiere, von denen er sein Leben lang geträumt hatte und genoss den Luxus, der den wohlhabenden Teilnehmern einer solchen Reise an jeder Station und zu jeder Stunde des Tages selbstverständlich geboten wird. Ja, er genoss die Reise. Und wenn sich in seinem Unterbewusstsein ganz leise
eine Stimme hören ließ, die ihn darauf hinwies, dass sein Afrika, unter gewissen veränderten Vorzeichen selbstverständlich, in erschreckendem Maße dem ähnelte, was für seinen Großvater als Vertreter der Kolonialherren selbstverständlich gewesen war, brachte er sie schleunigst zum Schweigen und stürzte sich mit verdoppeltem Eifer auf die Zerstreuungen der Reise.
Dann traf er Joseph. Joseph, dessen Großvater in einem lokalen Aufstand von geringer Bedeutung gegen die Engländer gefallen war, dessen Vater bei einem Unfall auf einer Baustelle unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen war. Joseph, dessen größter Wunsch es gewesen wäre, zu lernen, zu studieren, um so seinem Volk von Nutzen zu sein und der, durch Geldmangel dazu gezwungen, als Kellner in einer der Lodges arbeitete, in denen Cecils Reisegruppe untergebracht war. Joseph, der in den Augen eines, wenn auch rüstigen,
alten Mannes noch die ganze Anmut, ja die Schönheit, der Jugend besaß. Joseph, der homosexuell war.
Cecil zögerte nicht. Nach der ersten (bezahlten) Nacht überredete er Joseph, seine Arbeit aufzugeben, kaufte in Mombasa ein Haus und ließ sich dort nieder, mit Joseph als seinem Diener (nach außen hin) und Freund.
Es waren zwei glückliche Jahre gewesen, dachte Cecil, in die Dunkelheit starrend. Er hatte Afrika "erforscht", wie er es sich erträumt hatte, war durchs Land gereist, hatte Kisuaheli und Kikuyu gelernt, Sonnenauf- und -untergänge beobachtet, Löwen und Schakale durch die Steppe ziehen sehen, unter den Sternen geschlafen. Und er war auf Elefanten geritten.
Dass er auch die andere Seite gesehen hatte, die düstere Gegenseite des Paradieses, die Slums, in denen Waisenkinder bettelten und Müll sortierten, um zu überleben, in denen sich Kinder prostituierten (und Käufer für ihre Ware fanden), nur um ihr nacktes Leben zu fristen, das Ungeziefer und die Krankheiten, die die Armen plagten, empfand er nur als gerecht.
Er hatte photographiert und gefilmt, geschrieben und gezeichnet, sein Leben und das Leben des Landes dokumentiert, das ihm Heimat geworden war. Und er hatte versucht, die Not zu lindern, die er sah, auch wenn ihm klar war, dass es immer nur ein Tropfen auf einem heißen Stein war.
Weil es so wenig gab, das er tun konnte, hatte er es vor Joseph geheim gehalten. Er wollte nicht, dass der Freund glaubte, er gebe seinem Volk Almosen, bezahle so für die Freundschaft und Liebe, für die er Joseph selbst kein Geld geben konnte.
Schlimm genug, dass Joseph darunter litt, "ausgehalten" zu werden. Cecil hatte versucht, ihm zu erklären, dass es keine Rolle spiele, von wem das Geld stamme, solange es dazu diene, ihr gemeinsames Leben zu ermöglichen, doch der stolze Mann hatte darauf bestanden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Rolle des Dieners ausgefüllt, die doch nur dazu gedacht war, ein Verhältnis zu verbergen, das für die Öffentlichkeit inakzeptabel gewesen wäre. Cecil hatte ihn schließlich gewähren lassen, hilflos
gegenüber so viel Unabhängigkeit, überzeugt, dass Joseph so, wie sie ihr Leben eingerichtet hatten, sein Glück gefunden hatte wie er selbst das seine.
Hatte die Unterredung vorhin wirklich stattgefunden? War es nicht doch nur ein Produkt seiner Phantasie, ein Alptraum, aus dem er erwachen könnte, erwachen würde, jetzt, sofort?
Joseph war es nicht gut gegangen in den letzten Monaten, das hatte er seit langem gespürt. Doch sein Drängen, er möge zum Arzt gehen, war immer abgewehrt worden; es sei nichts, Joseph brauche keinen Arzt. Zuletzt hatte er rundweg erklärt, es sei ohnehin sinnlos, die Medizin könne ihm nicht helfen. Aber er, Cecil, hatte es nicht verstanden.
Bis heute, bis vor zwei Stunden, als er bei Joseph klopfte, das Zimmer betrat und den Freund mit aufgeschnittenen Pulsadern vorfand, langsam verblutend. Er hatte den Arzt rufen wollen, Joseph retten, hatte versucht, die Blutung mit eilig irgendwo abgerissenen Stofffetzen zu stillen, auf ihn eingesprochen, wie es eine Mutter mit einem kranken Kind tut - und Joseph hatte gelacht. Hart, verächtlich, bitter, hatte so gelacht, dass es wehtat, ihm das Herz zerriss.
"Verstehst du denn nicht, du Dummkopf?" hatte Joseph gesagt. "Ich bin am Ende, und du warst der letzte, den ich mitnehmen konnte. Ich habe AIDS, begreifst du das? AIDS, und du hast es auch, wenn Gott gut ist und meiner Rache gnädig!"
"AIDS? Aber - weshalb?" Mehr hatte er nicht sagen können, hatte sich niedergesetzt am Bett des Freundes, denn das war Joseph, gleichgültig, was er getan hatte, gleichgültig, ob er sein Freund war oder nicht, selbst, wenn er es nie hatte sein wollen, denn seine, Cecils, Liebe, gehörte Joseph, gehörte seinem Land. Feindschaft, Rache und derlei hatten da keinen Platz. Nur Klarheit wollte er. Wissen, warum.
"Warum? Warum ich AIDS habe? Das ist der Fluch meines Volkes. Gottes Wille", hatte Joseph gesagt. Und dann, verstehend, dass Cecil wissen wollte, warum Joseph auch seinen Tod gewollt hatte, hatte er mit diesem schrecklichen Lachen gesagt: "Weiße! Sie sind reich! Sie befehlen. Sie nehmen. Wenn du Glück hast, geben sie Geld für das, was sie nehmen. Aber Geld kann nur in den seltensten Fällen das aufwiegen, was sie dir nehmen."
Er hatte geschwiegen, und Cecil hatte geglaubt, die Schmerzen hätten ihn zum Schweigen gebracht. Doch dann hatte Joseph weitergesprochen, und der ärgste Schmerz, den man in einem aufgeschnittenen Handgelenk spüren kann, war nichts gewesen gegen den, den Cecil bei seinen Worten empfunden hatte: "Neger sind Untermenschen. Das denkt ihr, auch wenn ihr es nicht sagt. Und ich bin noch weniger. Ein schwuler Neger. Wie viele haben mich benutzt. Für Geld."
"Aber ich …" hatte Cecil versucht, zu sagen.
"Du, ja. Du auch. Und dafür nehme ich dich mit. Nach den anderen. Als letzten. AIDS ist unheilbar. Das weißt du."
"Aber - warum …?"
"Das ist meine Rache. Rache für mein Volk. Für die Demütigungen. Für Afrika."
"Aber ich liebe Afrika. Ich liebe dich."
Joseph hatte ihn nur angesehen. Ein fremder Mensch.
Doch Cecil wusste, wovon er sprach. "Ich liebe dich. Ich liebe Afrika. Ich werde jeden Tag um dich trauern, den ich ohne dich leben muss. Aber ich werde ohne dich weiterleben, so lange es in Würde möglich ist. Um Menschen Leben zu geben. Geld kann auch das. Ein Tropfen auf einem heißen Stein, ich weiß. So wie dein Tun nur wenige getötet hat, kann mein Geld nur wenige retten. Aber so wie du bis zum Ende deinen Weg verfolgt hast, werde ich meinen verfolgen."
Er hatte sich zu ihm gebeugt und ihn geküsst. Dann war er gegangen.
Und jetzt wartete er hier draußen im Dunkeln darauf, dass Joseph starb, und er heimkommen und seinen schwarzen Diener "finden" könnte. Die Formalitäten abwickeln. Weiterleben. So gut es gehen wollte.
Die fünf Elefanten schritten immer noch auf einem Regal hintereinander her. Ins Afrika seiner Träume.
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