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Wesen aus Wind

©  Michael Obert


Nach zehn Kilometern setzte der Motor aus. Das Buschtaxi blieb stehen, der Fahrer, ein junger Mann mit ernstem, pockennarbigem Gesicht, stieg aus, öffnete die Kühlerhaube und schlug mit einem Gabelschlüssel auf den Motorblock ein.
"Schlechtes Omen", sagte mein Nachbar; er stellte sich mit Komadi vor.
Komadi war ungeheuer dick. Er schwitzte. Seine Arme und Achseln durchnässten mein Hemd. Nach einer Weile kam der Fahrer zurück und ließ sich wieder hinter das Steuer fallen.
"Kein Problem", sagte er euphorisch.
Wir stiegen aus, um den Wagen anzuschieben. Das Blech glühte in der Sonne. Ich hörte, wie ein Gang eingelegt wurde und der Motor widerwillig ansprang. Der Auspuff hustete eine schwarze Wolke aus. Wir zwängten uns zurück auf die Sitze, und der Fahrer begann von neuem, die Löcher in der Piste nach Niagassola zu umkurven.
Ich hatte in Siguiri im Norden Guineas vom Heiligen Balaphon gehört, einem mysteriösen Musikinstrument - 800 Jahre alt, mit magischen Fähigkeiten. Eigentlich folgte ich dem Niger, den ich von der Quelle bis zur Mündung bereisen wollte, doch in Siguiri stellte sich heraus, dass es vorerst keine Verbindung stromabwärts nach Mali geben würde. Der Wasserspiegel war zu niedrig; ich saß fest. An einem lähmend schwülen Nachmittag erzählte mir mein Gastgeber, ein alter Malinke mit Zähnen aus verkratztem Silber, vom Balaphon.
"Es tötet jeden, der unerlaubt zuhört!", sagte er und erschauerte dabei. "Sein Klang schlüpft in dich hinein, in deine Öffnungen, in Nase, Mund und Ohren. Das Balaphon füllt dich auf, du ertrinkst in seiner Musik."
Geheimnisse. Mythen. Auf Reisen ist die Welt voll davon. Und nur selten kann ich mich der Faszination entziehen, die sie auf mich ausüben. Ich ließ die Ufer des Niger hinter mir und machte mich auf den Weg nach Niagassola, um nach dem Instrument zu suchen.
Im Buschtaxi, einem Peugeot 504, stapelten sich vierzehn Fahrgäste. Weitere Mitreisende saßen auf einem gewaltigen Gepäckberg auf dem Dach. Ihre Füße baumelten jenseits der Scheiben vor der staubigen Landschaft. Im Innenraum roch es nach Abgasen und Schweiß. Staubwolken drangen durch den rostzerfressenen Unterboden herein und überzogen Haut, Haare, Kleidung, Gepäck mit einer lateritroten Schicht. Wir kamen vier oder fünf Kilometer weit; dann knallte es, und der rechte Vorderreifen war platt.
"Kein Problem!", sagte der Fahrer, während wir im kargen Schatten vertrockneter Büsche in die Hocke gingen.
Er ließ sich einen abgekämpften Ersatzreifen vom Dach herunterreichen. Gleich darauf stellte sich heraus, dass der Wagenheber nie mehr einen Wagen heben würde. Wir stemmten uns gegen Kotflügel und Türen, der Fahrer schob einen Felsbrocken unter, und in mir reifte ein Verdacht, warum Buschtaxis auf so viele Passagiere angewiesen waren.
Die Piste durchschnitt ein menschenleeres Land. Es schien hier überhaupt keine Dörfer zu geben. Aus dem niedrigen Busch ragten Karitébäume und Baobabs, nur gelegentlich wurde das Dickicht durchbrochen, und der Blick konnte über weite Savannen aus Elefantengras schweifen. Ich klemmte zwischen einer schweigsamen Frau mit kantigen Hüftknochen und dem massigen, schweißgebadeten Komadi. Sein Name bedeute "zu allem fähig", sagte er in seiner Schwalbenstimme. Er habe in Rumänien studiert. Maschinenbau, wie er präzisierte. Im ersten Jahr habe er Rumänisch gelernt, dann sechs Jahre die Uni besucht, in Bukarest. Jetzt sei er Medikamentenhändler. Ein ehrlicher, zukunftsträchtiger Beruf. In Afrika sei jeder krank, einfach jeder.
"Und was führt Sie in diese Einöde?", fragte Komadi und atmete schwer.
"Das Balaphon", sagte ich leise. "Ich will das Heilige Balaphon in Niagassola sehen."
"Das Sosso Bala!", rief Komadi aus und pfiff durch die Zähne. "Es bringt Glück. Wer es sieht, hat ein ganzes Jahr Glück, ist gesund, hat Geld, viel zu Essen, Frauen. Aber das Balaphon ist auch gefährlich."
"Gefährlich?"
"In manchen Nächten spielt es allein", flüsterte Komadi. "Ich meine ganz allein. Die Schlegel surren durch die Luft, sie schlagen die Hölzer, aber es ist niemand im Raum."
Ich sah ihn ungläubig an.
"Das Balaphon kennt die Zukunft. Es weiß, wenn ein Griot oder ein Dorfchef stirbt. Es sieht Kriege und Krankheiten kommen. Für Fremde ist es tabu. Die Griots werden es Ihnen nicht zeigen. Es sei denn ..."
"Ja?"
Er näherte sich meinem Ohr, und sein Atem kroch in meinen Gehörgang wie eine warme, ölige Flüssigkeit.
"Es sei denn, Sie bringen ein Menschenopfer."
"Verstehe."
"Europäer!", kreischte Komadi und schüttelte sich; Tröpfchen stoben durch die Luft wie unter einem Rasensprenger.
Diese Europäer glaubten, sie wüssten über Afrika bescheid. Dabei hätten sie nichts verstanden, gar nichts. Verantwortung, moralische Verpflichtung, dass er nicht lache, ein paar Milliarden Entwicklungshilfe, alles nur zur Gewissensberuhigung. Ob mich seine Meinung interessiere? Also, die Sache sei ganz einfach: Die Europäer verlängerten nur die Agonie Afrikas. Europa müsse Afrika endlich sterben lassen. Endlich! Endlich! (Seine Stimme wurde schrill.) Dann erhöben sich die Völker, machten den Rest des Kontinents auch noch kaputt, alles kaputt, und Afrika könne ganz neu anfangen. Nicht die Lösung? Ich sei also auch so einer, einer, der einfach nicht verstehen wolle. Ich solle mir doch Europa ansehen. Zwei Kriege hätten kommen müssen, alles sei zerstört gewesen. Alles! Die Deutschen seien ein gutes Beispiel. Hätten sie nicht auch ganz neu anfangen müssen? Und ich könne doch nicht umhin, zu sehen, wo die Deutschen jetzt stünden. An der Spitze stünden sie, ganz oben...
Der Wagen knallte hart in ein Schlagloch. Eine Art Detonation schnitt dem dicken Komadi das Wort ab. Ein Stoß durchzuckte die Karosserie, als sei die Vorderachse weggerissen worden. Frauen quiekten erschrocken, eine Sekunde lang setzte der Rekorder aus. Gepäckstücke, Maisfladen, menschliche Extremitäten flogen durch die Luft. Der Wagen ächzte, schien sich kurz zu besinnen, machte zwei, drei erleichterte Hüpfer und verfiel wieder in sein stoisches Surren, bis der zweite Reifen seinen Geist aufgab, hinten rechts, in aller Stille, fast heimlich, als habe er gewusst, dass es keinen gab, der ihn ersetzen konnte. Vielleicht hatten wir zu diesem Zeitpunkt vierzig Kilometer zurückgelegt.
"Kein Problem!", sagte der Fahrer.
Er setzte den Gabelschlüssel an und schraubte, eine der Radmuttern machte ihm jedoch zu schaffen. Mehrere Männer versuchten sich abwechselnd daran. Stunden später mussten wir einsehen, dass sie sich nicht öffnen ließ. Ich hockte mit den anderen Fahrgästen im Staub und starrte die Radmutter an. Es war eine gewöhnliche Sechskantmutter. Das Gewinde des Schraubenstifts durchdrang sie einen Finger breit. Sie war von einem schmutzigen Erdbraun; nur ihre Kanten, vom Gabelschlüssel zerschunden, funkelten silbern. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor eine Mutter derart genau betrachtet zu haben, und je länger ich es tat, desto faszinierender erschien sie mir. Mir fielen ihre mikroskopisch feinen rostroten Maserungen auf, ihre selbst von der Gewaltanwendung kaum beeinträchtigte Geometrie, die Ästhetik der winzigen Abflachungen zwischen ihrer glatten Unterseite und den Kanten. Diese Radmutter war etwas ganz Besonderes. Und vielleicht klingt das jetzt seltsam, aber in diesem Moment bedauerte ich, dass ich nicht mehr über sie wusste. Die letzten Seiten meines Notizbuchs waren für Angelegenheiten reserviert, die ich unterwegs nicht klären konnte und zu Hause nachlesen wollte. Ich ergänzte die Liste um das Wort "Radmutter" und unterstrich es zweimal.
Im Verhältnis zu anderen Autoteilen war diese Mutter winzig. Sie kostete, wie ich annahm, keine 200 Francs [1]. Doch jetzt war sie so viel wert wie der ganze Wagen. Der Fahrer setzte einen Schraubenzieher an und schlug mit einer Brechstange darauf ein. Es dauerte Stunden, bis die Mutter aufgemeißelt war. Am späten Nachmittag fiel sie zu Boden, und einen Moment lang war ich versucht, sie wieder aus meinem Notizbuch zu streichen.
Wir waren erschöpft. Ich hatte gehörige Blasen an den Fingern. Wir rissen zu siebt den Schlauch aus dem Mantel; dann stellte sich ein neues Problem: die Fahrradpumpe. Sie war kaputt. Ihr Dichtungsgummi hielt nicht. Es war schon dunkel, als der Fahrer sie beiseite legte.
"Kein Problem!", sagte er. "Morgen früh gehe ich ins Dorf. Ich hole eine gute Pumpe."
Er legte sich auf die Piste, rollte sich in seine Jacke und schlief ein.
Keiner der Fahrgäste war auf eine Nacht im Busch vorbereitet, aber niemand beschwerte sich. Wir legten uns ebenfalls auf die Piste. Mein Magen knurrte. Die trockene Zunge klebte am Gaumen. Stechmücken drückten ihre Stachel in mein Gesicht. Wir lagen genau so, wie wir zuvor im Wagen gesessen hatten: die Frau mit den kantigen Hüften links, Komadi rechts von mir.
Ich fragte Komadi ohne eigentliche Neugier nach der Uhrzeit. Er hob die Armbanduhr ins Licht seines Feuerzeugs und streckte sie mir hin.
"22 Uhr", sagte ich. "Vielen Dank."
"Entschuldigen Sie, bitte!", korrigierte er mich höflich. "Aber es ist noch nicht 22 Uhr. Es ist erst 21 Uhr 58."
Am nächsten Vormittag - der Busch glühte schon - kam der Fahrer zurück und schwenkte eine intakte Fahrradpumpe über dem Kopf. Wir pumpten abwechselnd, bis der geflickte Reifen prall genug war; dann stemmten wir uns hinter den Wagen und schoben. Der Motor stotterte und sprang an. Als wir weiterfuhren, stimmten die Fahrgäste ein Lied an.
Ich fragte Komadi nach dem Inhalt.
"Ein Volkslied", sagte er, ohne die Kopfstimme, in der er gesungen hatte, zu verlassen. "Über den Elefanten und die Mücke. Sie haben einen Streit. Am Schluss stirbt der Elefant."
Nach einer weiteren Reifenpanne, einem verstopften Luftfilter, einem Problem mit der Zündung und einer zweiten Nacht im Busch erreichten wir am dritten Reisetag das 135 Kilometer von Siguiri entfernte Niagassola.
"In Kourémalé ist heute Markttag", sagte Komadi, als ich ausstieg. "Kourémalé ist der Grenzort zu Mali. Die Schmuggler kommen dorthin. Sie sollten mitkommen und sich das ansehen."
"Kein Problem", sagte der Fahrer und rang sich ein Lächeln ab. "Nach Kourémalé sind es nur zwanzig Kilometer."
Ich ließ mir meine Tasche vom Dach herunterreichen und wünschte ihnen eine gute Reise.
Niagassola war ein staubiges Dorf aus dicht gedrängten, walnussfarbenen Gehöften. Am Ortseingang hingen Stofffetzen an einer Schnur über die Piste, neben der Schnur stand ein Schild mit der Aufschrift Douane, und neben dem Schild schlief die Zöllnerin, eine winzige, kugelrunde Frau in hellblauem Uniformrock.
Obwohl das Brummen eines Motors in Niagassola einem Ereignis gleichkam, wachte die Zöllnerin nicht auf. Stattdessen löste sich ein Junge aus dem Schatten und ließ die Schnur herunter, damit das Taxi durchfahren konnte. Eine Weile lang folgte mein Blick noch Komadis fleischiger Hand, die aus dem Fenster winkte, dann hüllte sich der Wagen in eine Staubwolke und verschwand.
Der Junge zog die Schnur wieder straff. Ich fragte ihn nach der Schule. Aus seiner Nase quoll grünlicher Rotz. Er ließ die Zunge über die Oberlippe gleiten, schluckte und zeigte auf einen weit ausladenden Flamboyant jenseits der Piste.
Die Lehrer saßen im Schatten, tranken Tee und beobachteten zwei junge Männer, die knorrige Äste mit starken Fasern zu einem Zaun zusammenflochten.
"Gegen die Rinder", sagte einer der Lehrer, schüttelte mir die Hand und stellte sich mit Lancenou vor.
Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war der Schulleiter, ein gut gelaunter Mann mit hauchdünnen Augenbrauen. Er ging barfuss.
"Diese Rinder!", sagte Lancenou. "Sie verdrecken den Schulhof."
Ein paar Mädchen in zerrissenen weinroten Schuluniformen kamen vorbei. Sie stellten sich vor den Lehrern auf, machten einen Knicks und rannten hinüber zum Schulhof, wo ein Junge zum Zeichen des Unterrichtsbeginns mit einem Hammer auf ein rostiges Brunnenzahnrad schlug.
"Na dann!", lächelte Lancenou seinen Kollegen zu.
Sie tranken ihren Tee aus, erhoben sich und traten in die lärmenden Klassenzimmer.
"Was führt Sie nach Niagassola?", fragte Lancenou, nachdem die Kinderstimmen verebbt waren.
"Ich möchte das Balaphon sehen."
"Eh? Das Sosso Bala?", rief Lancenou und schob seine riesige Hornbrille ins Haar. "Leider sind Sie umsonst gekommen. Das Sosso Bala ist heilig. Die Griots hüten es wie eine alte Mutter. Fremde dürfen es nicht sehen."
"Auch nicht, wenn sie einen guten Freund in Niagassola haben?"
"Das ist etwas anderes. Dann gehören Sie zur Familie. Wer ist denn Ihr Freund?"
"Sie!"
Wir lachten.
Lancenou versprach mir, zu sehen, was er für mich tun konnte. Bis dahin brachte er mich im Haus der Lehrer unter, einem länglichen Betonbau mit durchlöchertem Wellblechdach.
"Sie müssen sehr hungrig sein!", sagte er und rief in der Pause eine Schülerin; sie machte einen Knicks vor ihm.
"Hol Milch für 500 Francs!", befahl er und zuckte kaum merklich mit den Augenbrauen.
Das Mädchen schien verängstigt. Es nahm das Geld und eilte wortlos davon. Kurz darauf trank ich frische Kuhmilch und aß frittierte Maisfladen; dann stellte Lancenou einen Blecheimer mit heißem Wasser vor mich hin. Ich ging hinter das Haus, um mich zu waschen. Die Lehmmauer des Badezimmers reichte mir bis knapp über die Hüften. Während ich mich einseifte, schweifte mein Blick über die Savanne: Elefantengras, Karitébäume, Schirmakazien. Nebenan sah ich in ein Gehöft; Leute winkten herüber und tuschelten. Vielleicht hielten sie mich der langen Haare wegen für eine nackte weiße Frau.
"Das Balaphon gehörte Soumaoro Kanté", sagte Lancenou, während wir später Reis und pikant gewürzte Buschantilope aßen. "Sie müssen Soumaoros Geschichte kennen, sonst verstehen Sie nichts. Niamouri und Nakamsar, die alten Zwillinge, werden sie Ihnen erzählen."
Wir überquerten den winzigen, verlassenen Marktplatz. Auf einer abbröckelnden Lehmfassade stand mit blutroter Farbe das Wort Hôpital geschrieben. Wir passierten die Moschee, einen schmucklosen Bau ohne Minarett. Von den anderen Hütten des Dorfes unterschied er sich nur durch einen verbeulten Halbmond auf dem Dach. Lancenou zog mich in einen Krämerladen. In den Regalen stapelten sich Konservendosen; es roch nach Seife.
"Die Zwillinge sind sehr alt, sie brauchen Medizin", sagte Lancenou und griff nach einer Flasche Zuckerrohrschnaps.
In der Rundhütte der Zwillinge war es dunkel und heiß. Zwei Baumstämme lagen am Boden. Wo sie sich trafen, glomm ein Feuer. Der Rauch biss in den Augen und erschwerte das Atmen. Wir setzten uns auf eine Bodenmatte, Lancenou knipste seine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über einen der beiden Männer streichen.
"Niamouri Kanté", sagte er; dann beleuchtete er den anderen: "Nakamsar Kanté."
Sie waren nicht zu unterscheiden. Beide trugen ein lichtes Oberlippenbärtchen. Ihre Augenbrauen waren schneeweiß. Einzelne Bartkringel verteilten sich in ihren Gesichtern wie Kokosraspel. Sie trugen die gleichen schmutzigen grauen Kutten, ihre Hosen fransten über den Knien aus, Wasserspuren mäanderten an ihren schmutzverkrusteten nackten Beinen hinunter bis zu den rosaroten Gummischuhen mit der Aufschrift Good Luck - Canada ´96.
Als ich genauer hinsah, fiel mir doch ein Unterschied auf. Während Nakamsar beide Augen geschlossen hielt, war Niamouris rechtes Auge einen Spalt breit geöffnet. Im Schein der Taschenlampe schimmerte es in milchigem Weiß. Sie waren beide blind.
Lancenou füllte die Plastikbecher. Der Schnaps roch wie Terpentin. Niamouri saß in gebückter Haltung da, den Kopf leicht nach unten geneigt, und begann mit fester Stimme zu sprechen:
"Wir sind die Söhne von Mahdi Kanté. Unser Vater war Jäger. Der Vater unseres Vaters hieß Narami Kanté, ancien combattant in der Armee der Franzosen. Wir sind geboren, als die Clans der beiden Flussufer sich bekämpften und die Franzosen kamen, um zu schlichten."
Die Zwillinge griffen gleichzeitig nach den Bechern und nahmen einen kräftigen Schluck vom Zuckerrohrschnaps. Sie verzogen keine Miene, wischten sich den Mund ab und stellten ihre Becher wieder auf die gestampfte Erde; danach richteten sie sich leicht auf und begannen, ihre Oberkörper zu wiegen, als folgten sie einer inneren Musik - synchron wie Balletttänzer.
"Was wir über Soumaoro wissen, den Besitzer des Balaphons, haben wir von unserem Vater erfahren, er hat es von seinem Vater erfahren, dieser wieder von seinem Vater. Hört euch das an: Der alte König von Sosso hatte drei Frauen: Sanso, Dabi und Kaya waren zur selben Zeit schwanger. An einem Freitag, früh morgens, rief Sanso nach der Alten. Sanso hatte Bauchschmerzen. Die Alte lief zum König. Der König befahl, die Alte solle bei Sanso bleiben. Als sie zurückkam, traf sie Dabi. Auch Dabi hatte Bauchschmerzen. Die Alte lief zum König. Der König befahl, sie solle ins Dorf eilen, eine zweite Alte solle kommen. Sie wollte gerade loslaufen, da traf sie Kaya. Auch Kaya klagte über Bauchschmerzen. Spürt ihr, wie sich der Bogen spannt? Die Alte öffnete die Tür zur Kammer der Frauen. Ein gewaltiger Sturm erhob sich im Zimmer und warf sie zu Boden. Als sie wieder zu sich kam, saßen die drei Frauen des Königs vor ihr. Ihre Bäuche waren leer, doch vor ihnen lag nur ein Kind. Hört euch das an: ein Junge, ein einziger Junge."
Niamouris Oberkörper glich jetzt einem Grashalm bei ständig wechselnder Windrichtung. Seine Worte überschlugen sich. Kolastücke schossen wie zerhackte Möhren aus seinem Mund.
"Die Alte fragte Sanso nach ihrem Kind; Sanso zeigte auf den Jungen. Die Alte fragte Dabi; sie zeigte auf den Jungen. Auch Kaya zeigte auf den Jungen. Die Alte lief zum König. Die Bäuche seiner Frauen waren leer, doch es gab nur ein einziges Kind. Da kam der König selbst. Er blieb vor der Kammer stehen, grüßte seine Frauen - so war es Tradition - und fragte sie nach ihren Kindern. Sanso, Dabi, Kaya zeigten auf den Jungen. Spürt ihr, wie sich der Bogen spannt? Der Junge begann zu schreien. Er hatte Hunger. Hört euch das an: Er saugte alle sechs Brüste leer. Jeder Malinke, jeder Griot, jeder Noble weiß: Soumaoro Kanté war der Sohn von drei Müttern."
Mein Diktiergerät klickte, und ich bat Niamouri um eine kurze Pause, um eine neue Kassette einzulegen. Er räusperte sich lautstark und spuckte aus. Sein Auswurf streifte den äußersten Bereich des Lichtkegels und landete im Becher des blinden Nakamsar, der ihn zum Mund führte und einen kräftigen Schluck nahm; dann stieß Niamouri seinen Zeigefinger ins Dunkel der Hütte und hob seine Stimme um eine Oktave an.
"Hört euch das an: Soumaoro wurde König, König von Sosso. Wer mit ihm sprechen wollte, sprach durch eine Kalebasse. Er hatte 99 Ehefrauen. Drei Mauern umgaben seine Hauptstadt mit hundertachtundachtzig Festungen. Soumaoro wohnte im siebten Stock seines Palastes. Menschenhäute bedeckten den Fußboden. Soumaoros Kleider waren aus Menschenhaut, sein Hut war aus Menschenhaut, seine Schuhe waren aus Menschenhaut. Im Palast gab es eine geheime Kammer; nur Soumaoro durfte sie betreten. Dort lagen Köpfe, neun Menschenköpfe, denn Soumaoro hatte neun Herrscher besiegt. Er war unverwundbar. Hört euch das an: Seine Brust war wie Fels, Speere prallten daran ab. Niemand kannte sein Geheimnis. Spürt ihr, wie sich der Bogen spannt? Ein Pfeil kam, Soumaoro stieg in die Höhe, löste sich auf, in Luft - einfach so, nicht einfach so. Soumaoro war kein Moslem, er sprach mit den Geistern. Er war Schmied, Herr des Feuers, war Zauberer. Zauberer verwandeln sich in Eulen, verwandeln sich in Schlangen, in Löwen. Spürt ihr, wie sich der Bogen spannt? Hört euch das an: Soumaoro konnte neunundsechzig Gestalten annehmen und sich in Wind verwandeln. Soumaoro kam und ging mit dem Wind - schnell, mächtig, unsichtbar."
Niamouri griff nach seinem Stock und knetete den Knauf aus geklopftem Blech. Sein Oberkörper kam zur Ruhe, sein Kinn sank auf die Brust. Er atmete schwer. In seinen Mundwinkeln klebten getrocknete Kolareste.
"Das Balaphon, Niamouri", flüsterte Lancenou. "Erzähl uns von Soumaoros Balaphon."
"Das Sosso Bala, das Heilige Balaphon", sagte Niamouri, mit jedem Wort leiser werdend, als drehe jemand mit unendlicher Geduld die Lautstärke zurück. "Das Sosso Bala stand in der geheimen Kammer im siebten Stockwerk des Palastes. Nur Soumaoro spielte darauf. Das Sosso Bala sprach mit den Tieren, das Sosso Bala erweckte Tote, das Sosso Bala war kein normales Balaphon, hatte magische Kräfte, war nicht von dieser Welt."
"Und woher bekam Soumaoro das Balaphon?", fragte ich aufgeregt.
"Wir sind müde", sagte Niamouri, und seine Stimme klang jetzt kraftlos und leer. "Es gibt Dinge, die der Fremde nie erfahren wird. Das Mandingo hütet seine Geheimnisse, aber vielleicht erzählen es Ihnen die Griots."
Als wir uns erhoben, streifte der Lichtkegel der Taschenlampe zwei getrocknete Zweige mit silbergrauen Blättern. Sie hingen gekreuzt über der Tür.
"Sinsinén", sagte Lancenou leise. "In den Zweigen wohnt der Lebensgeist der Zwillinge. Ihr Vater hat sie am Tag ihrer Geburt geschnitten. Jedes Jahr werden ihnen zwei Hühner geopfert. Die Zwillinge werden am selben Tag sterben. Wenn es so weit ist, fangen die Zweige Feuer; sie hinterlassen keine Asche."
Wir traten hinaus in die sternenklare Nacht. Das Gehöft lag so still da, als sei es verlassen. Während wir zum Haus der Lehrer zurückgingen, dachte ich an Soumaoro und seine lange Reise durch die schriftlosen Jahrhunderte. Ich stellte mir die Unzahl von Griots und Weisen vor, die das Lied in ihren Gedächtnissen gespeichert, es an nachfolgende Generationen weitergegeben und so dafür gesorgt hatten, dass Soumaoro 800 Jahre nach seiner Herrschaft noch so furchtbar schien, als sei er erst gestern in seinem Gewand aus Menschenhaut durch die Dörfer des Mandingo geritten. Besonders faszinierte mich die Vorstellung, dass neben den Liedern der Griots auch das Balaphon überdauert haben sollte, als lebendiges Bruchstück uralter Mythen, noch immer heilig und mächtig und voller Geheimnisse. Das Balaphon war ein Fingerzeig der afrikanischen Götter und Geister; es sagte:
"Wir sind noch da!"
Als ich mich im Haus der Lehrer auf der Bambusliege ausstreckte, fiel mir eine Stelle aus Djibril Tamsir Nianes Epos Soundjata ein. Bala Fasséké, ein Griot, hatte sich in die geheime Kammer Soumaoros geschlichen, um auf dem Sosso Bala zu spielen.
"Nie hatte er ein so harmonisches Balaphon gehört", hieß es im Epos. "Kaum hatte er es mit dem kleinen Stab berührt, gab das klangvolle Instrument Töne von unendlicher Süße von sich. Die Klänge waren klar und rein wie Goldstaub."
Der Bala Tigui, der Wächter des Heiligen Balaphons, empfing uns unter dem Bambusdach vor seinem Haus. Er hatte gepflegte Hände und feine Gesichtszüge. Seine braunen Augen waren mit Kajalstrichen untermalt, die rechte Hand lag im Schoß, Mittel- und Zeigefinger überkreuzten sich. Wenn er sprach, spannte sich die Haut leicht über seinem Nasenrücken und sein kantiger Kehlkopf hüpfte auf und ab.
Um ihn herum saßen die Noblen seines Clans, eine Handvoll Alte in glänzenden Boubous, und sein zweiter Sohn Djigoui, ein junger Mann mit geröteten Augen, der eine ölverschmierte gelbgrüne Bundfaltenhose trug. Die Unterredung fand wie üblich auf Malinke statt. Der Bala Tigui sprach mit heiserer Stimme zu seinem Sohn, dieser wiederholte die Worte für Lancenou, und am Ende der Kette fasste Lancenou in wenigen Sätzen für mich zusammen:
"Der Bala Tigui, sagt, dass er Sie willkommen heißt. Er sagt, die Griots stehen Ihnen zur Verfügung."
Ich gab einen kurzen Bericht meiner Reise durch Guinea ab und schloss mit meinem Anliegen; dann begannen die Verhandlungen. Der Bala Tigui gestikulierte, psalmodierte. In den kurzen Wortpausen warf Djigoui ein schnelles mh! oder ein naamu! [2] ein, was die ohnehin schnellen Sätze noch beschleunigte.
"Früher, sagt der Bala Tigui, sei ein Menschenopfer nötig gewesen, wenn ein Fremder das Sosso Bala sehen wollte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute müssen Sie eine Kuh bezahlen. Oder einen Hammel oder eine Ziege. Oder den entsprechenden Betrag in Francs."
"Wie viel?"
"Sie wollen 60 000", sagte Lancenou leise und schob seine Brille ins Haar. "Das ist zu viel, aber hier ist nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen."
Wir erhoben uns und gingen hinter das Haus.
"Dieser Preis ist eine Beleidigung", zischte Lancenou leise. "Sie sind nicht irgendein Fremder. Sie kommen mit mir, Sie gehören zu meiner Familie. Es ist also der Preis, den sie meiner Familie machen. Er ist indiskutabel, verstehen Sie?"
Ich verstand.
Wir einigten uns auf ein Höchstgebot von 20 000 Francs. Das war immer noch sehr viel, es kam jedoch nicht in Frage, aus den Verhandlungen auszusteigen. Ich wollte das Balaphon sehen. Und ich wollte mit dem Bala Tigui darüber sprechen. Ich zählte Lancenou die Scheine in die Hand, und wir gingen zurück unter das Sonnendach, wo der Clan der Griots lauerte wie eine Hyänenfamilie, die ein angeschlagenes Zebrafohlen wittert.
Nach langem Hin und Her akzeptierte der Bala Tigui unser Angebot. Er führte uns zu einer Rundhütte im Zentrum des Gehöfts und öffnete das Vorhängeschloss. Hinter der blauen Blechtür war es kühl und muffig. Zwei Holzstützen trugen eine von Ruß geschwärzte Bambusdecke. Der Bala Tigui griff nach dem oberen Ende eines Leintuchs und zog es vorsichtig zur Seite.
"Sosso Bala!", sagte er feierlich. "Das Heilige Balaphon!"
Es war eine Art afrikanisches Xylophon. Ich zählte einundzwanzig Klanghölzer, die auf achtzehn leicht marmorierten dunkelbraunen Kalebassen lagen. Die Resonanzlöcher waren mit Spinnenkokons verschlossen, wohl um den Klang zu verstärken. Am Instrument hingen zahlreiche lederne Talismane.
"Für jedes Menschenopfer eins", sagte der Bala Tigui ernst.
"Und wann wurde zum letzten Mal ein Mensch geopfert?"
"Soumaoro selbst hat die Talismane aufgehängt; sie schützen das Balaphon. Seit Soumaoros Tod ist an dem Instrument nichts mehr verändert worden."
Rechts daneben befanden sich weitere Gegenstände aus dem Nachlass Soumaoros: ein Silberspeer, ein gegabelter Stock, schwere Bronzeschellen. Wir setzten uns unter das Vordach, und ich stellte die Frage, die mich am meisten interessierte:
"Die Leute sagen, das Balaphon sei nicht von dieser Welt. Wie hat Soumaoro es bekommen?"
Lancenou übersetzte.
Plötzlich brauste der Bala Tigui auf. Seine Fäuste ballten sich, seine Stimme klang jetzt hart. Eine heftige Diskussion entbrannte, und niemand beachtete mehr die traditionelle Redefolge. Alle sprangen auf. Jeder schrie jeden an. Ich verstand nichts, niemand machte sich die Mühe, für mich zu übersetzen. Dann wurde es unvermittelt still. Der Streit riss ebenso abrupt ab, wie er begonnen hatte. Alle schwiegen, alle sahen zu Boden; schließlich erhob sich Lancenou, ich folgte seinem Beispiel, und wir verließen grußlos den Hof der Griots.
"Habe ich etwas falsch gemacht?", fragte ich verwirrt, als wir außer Hörweite waren.
"Nein, es ist nicht Ihre Schuld", schrie Lancenou und stampfte auf wie ein verzweifelter kleiner Junge. "Sie sagen, der Griot, der die Geschichte hütet, sei erst gestern von einer Reise zurückgekehrt. Er habe seine Augen operieren lassen, und nach einem solchen Eingriff dürfe er nicht über das Balaphon sprechen."
Lancenou kochte vor Wut.
"Ausreden!", tobte er. "Ausreden! Ausreden!"
"Bitte, beruhigen Sie sich", sagte ich mit gespielter Gelassenheit.
"Beruhigen?", stieß er hervor und raufte sich die Haare. "Sie haben Ihr Geld genommen, mir ein Versprechen gegeben und es nicht gehalten. Sie haben uns reingelegt, wollten die Geschichte von Anfang an nicht erzählen."
"Immerhin habe ich das Balaphon gesehen", sagte ich leise. "Es ist nicht so schlimm, Lancenou."
"Es ist schlimm! Sehr schlimm! Schlimmer könnte es gar nicht sein!", wimmerte er. "Ich habe mein Gesicht verloren."
Am Morgen darauf erwartete mich Lancenou mit einem strahlenden Lächeln am Frühstückstisch: Erdnüsse, Baguette, Tee.
"Gute Neuigkeiten", sagte er, und seine Augenbrauen zuckten. "Tenke ist aus dem Busch zurück. Tenke weiß alles über das Balaphon, mehr als die Griots. Er wird Ihnen erzählen, wie Soumaoro sein Balaphon bekam."
Tenke gehörte zu den Notablen von Niagassola. Vor fünfzig Jahren hatte ihn ein Leopard am Oberschenkel erwischt und durch den Busch gezerrt. Tenke hatte nach einem Ast gegriffen und der Raubkatze den Unterkiefer gebrochen. Als wir in sein Gehöft traten, rieb er die Wunde mit einem Pflanzensaft ein. Er bat uns Platz zu nehmen und wickelte sich eine schmutzige Mullbinde um.
"Ein halbes Jahrhundert", sagte er mit gutturaler Stimme. "Und diese Wunde will und will nicht heilen."
Wir saßen unter einem schönen Mangobaum. Der Boden war mit Ziegenköttel und Erdnussschalen übersät; dazwischen wuselten große schwarze Ameisen.
"Sie wollen also die Geschichte des Balaphons hören", sagte Tenke und begann sich eine kurze Pfeife zu stopfen. "Sie sind nicht der erste. Man hat mir Geld geboten, viel Geld, und ich habe die Geschichte trotzdem für mich behalten. Ihnen werde ich sie jedoch erzählen. Weil Sie mit Lancenou kommen, weil Sie sein Bruder sind."
Tenke war ein hoch gewachsener schlanker Mann. Die Haut seiner Hände erinnerte an aufgesprungene Erde; mehrere Fingernägel waren ausgerissen.
"Mouri lebte in einer Grotte", begann er, legte seinen Poncho aus grobem Wollstoff ab und sog genüsslich an der Pfeife, ohne sie anzuzünden. "Die Alten nannten den Ort Fologbe. Fologbe lag zwischen den Welten - nicht hell, nicht dunkel, hell und dunkel. Niemand traute sich nach Fologbe, denn Mouri lebte dort, seit Zeiten und Zeiten. Wenn Mouri mit den Tieren sprechen wollte, zog er sein Balaphon in den Eingang der Grotte und spielte darauf. Kein Tier konnte dem Klang widerstehen. Sie kamen, um zu lauschen, kamen alle nach Fologbe."
Tenke schloss die Augen und schien in sich hineinzublicken wie in ein lange nicht geöffnetes Gefäß, in dem er nun nach Erinnerungen suchte, nach Worten, den richtigen Worten, während die kalte Pfeife unentwegt zwischen seinen Mundwinkeln hin- und herwanderte.
"Soumaoro war Jäger, kannte keine Furcht, ging weiter in den Busch als alle anderen. Eines Tages hörte er Klänge, körperlose Klänge, die zwischen den Welten zögerten. Er folgte ihnen, schob Zweige beiseite und sah die Tiere, riesige Herden, die sich vor der Grotte versammelt hatten. Die Bäume hingen voller Vögel. Soumaoro konnte Mouri nicht sehen, denn Mouri war ein Wesen aus Wind. Soumaoro sah nur das Balaphon, sah nur die Schlegel, die durch die Luft wirbelten und die Hölzer tanzen ließen. Und er hörte das Lied. Es legte sich über den Busch wie ein feines Netz. Soumaoro verfing sich darin."
Tenke machte eine lange Pause, in die das leise Schnippen seines Daumens am Zündrädchen des Feuerzeugs wuchs, leise erst, dann immer lauter, auf eigenartige Weise rhythmisch, als begleite er eine Musik, die nur er selbst vernahm. Plötzlich sprang die Flamme aus der Düse auf, bläulich zitternd, und das Schnippen wurde vom leisen Knistern des Tabaks abgelöst.
"Soumaoro wollte das Balaphon besitzen", fuhr Tenke fort, leicht näselnd, da er den Rauch einen Moment lang in den Lungen hielt, bevor er behutsam ausatmete. "Als die Tiere verschwunden waren, ging Soumaoro zur Grotte, er war stark und schön - merkwürdig, nicht merkwürdig: Mouri verliebte sich in ihn. Mouri legte seinen Umhang ab und sickerte in eine menschliche Gestalt. Er versprach Soumaoro das Balaphon, doch nicht ohne ein Gegengeschenk: Mouri wollte Soumaoros Schwester haben. Soumaoro drückten die Eingeweide, er bot Mouri Gold, vergeudete jedoch nur seinen Speichel. Drei Monate blieb Soumaoro bei Mouri, drei Monate ließ er seine Zunge tanzen - reine Speichelverschwendung. Als Soumaoro an seinen Hof zurückkehrte, besuchte ihn seine Schwester; sie war besorgt. Soumaoro erzählte ihr von Mouri. Mh! sagte sie."
Die Zischlaute der Malinke-Sprache fuhren in Tenkes Pfeife und ließen Funken aufsteigen. Sie wirbelten durch die Luft, verglommen wie sterbende Glühwürmchen und sanken als Ascheflöckchen zu Boden, wo sie von Ameisen fortgetragen wurden. Tenke achtete nicht darauf; er war weit weg, durchlebte die Geschichte, die er erzählte, war Soumaoro, war seine Schwester, war Mouri.
"Soumaoro brach wieder auf, und seine Schwester folgte ihm heimlich", schrie Tenke jetzt; der Verband um die Leopardenwunde färbte sich rot. "Ein Jäger schaut sich nicht um, niemals. Angst sät Unglück sät Angst. Mouri sah die beiden kommen. Soumaoro bat ihn wieder um das Balaphon, da lief seine Schwester schon an ihm vorbei, schnell, in die Grotte hinein; sie opferte sich selbst. So bekam Soumaoro das Balaphon, bekam es von Mouri, dem Wesen aus Wind."
Als es dunkel wurde, gingen wir zum Krämerladen hinüber. Ein paar Männer saßen um eine Kerze, die in einer aufgeschnittenen Plastikflasche brannte. Lancenou schob mir einen Korbsessel aus Hirserohr hin. Ich nahm Platz und lehnte mich entspannt zurück. Eine Frau bereitete Tee zu und ließ ihn aus großer Höhe in die Gläser rinnen; das Kerzenlicht vergoldete den Strahl. Als sie den Deckel der Kanne hob, stieg eine dampfende Säule auf.
Aladin, dachte ich, gleich steigt Aladin aus der Wunderlampe.
Wenig später nahm ich ein leises Geräusch wahr, undeutlich zunächst, wie ein fernes Zirpen, das langsam in die Nacht hineinwuchs, ein Klimpern, wie es Zikadenschwärme kurz vor dem Regen erzeugen. Erst als es näher kam, hörte ich, dass es Musik war. Zwei Männer schälten sich aus der Dunkelheit, sie trugen Balaphone an Riemen um die Schultern und spielten im Gehen.
"Es ist nicht das Sosso Bala", sagte Lancenou, der Schulleiter, und lächelte. "Das wird nur am Tabaski-Fest gespielt. Aber ich habe mir gedacht, Sie sollten nicht wegfahren, ohne zu hören, wie ein Balaphon klingt."
Es klang wie ein Regenschauer. Leichte und schwere Tropfen prasselten ausgelassen auf ein gläsernes Dach. Ihr Rhythmus war fremd und kompliziert, und dennoch erschloss er sich mir über etwas, das jenseits meines Bewusstseins tief in mir verankert schien.
Die Männer begannen ein Lied zu singen. Es klang heiter und melancholisch zugleich. Ich fragte nicht nach seinem Inhalt, denn es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass sie Soumaoros letzte Tage besangen, die entscheidende Schlacht gegen Soundjata, den jungen Herrscher des aufstrebenden Mali-Reichs. Soundjata gegen Soumaoro, das Gute gegen das Böse, Islam gegen traditionelle afrikanische Religion. Soundjata hatte das Geheimnis von Soumaoros Unverwundbarkeit gelöst (nur der Sporn eines Hahns im Bogen seines Feindes konnte ihn töten) und besiegte ihn bei Krina im heutigen Mali im Jahr 1235. Das erbeutete Balaphon überließ Soundjata seinen Griots, dem Clan der Kouyaté in Niagassola, der es bis heute hütet.
Über Soumaoros Ende gibt es verschiedene Versionen. Mir gefällt die in Djibril Tamsir Nianes Epos am besten: Soundjata jagte Soumaoro bis nach Koulikoro am Niger, wo der Zauberkönig in eine Grotte ritt und verschwand. Er tauchte nie wieder auf; niemand weiß etwas Genaues, niemand kennt sein Grab.
Auf der Rückfahrt nach Siguiri traf ich einen alten Bekannten. Auf der Ladefläche des Lastwagens, zwischen Brennholzstapeln und blökenden Schafen, saß der Taxifahrer, mit dem ich nach Niagassola gekommen war. Er hatte auf den zwanzig Kilometern bis zum Grenzdorf noch mehrere Pannen gehabt.
"Wie geht es jetzt weiter?", fragte ich ihn.
"Kein Problem", sagte der Fahrer und wischte sich den Staub aus dem Gesicht. "Ich muss zurück nach Siguiri. Ich hole einen neuen Reifen, dann fahre ich wieder Taxi. Wirklich, Monsieur, kein Problem."




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