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Kindheit in Afrika
© Kristin Winter
Kind oder Koffer - irgendwas fehlt! Das war der legendäre Ausspruch der Mutter, als sie mit Gepäck, fünf Kindern und Mann auf dem Flugplatz stand, von wo aus der weitere Weg sie in das ferne Land bringen sollte. Südafrika.
Genauer gesagt: Pretoria. Ende der Sechziger Jahre. Das jüngste Kind war ein Jahr alt, das Älteste zehn. Ein flottes Unterfangen.
Pretoria mit seinen reichen, gepflegten Vororten, in denen die Weißen wohnen. Einen Boy zu haben ist normal. Oder auch zwei, für den Garten, für die Küche und die Wäsche. Meist wohnen sie in einem kleinen Nebengebäude, eine kahle Kammer mit Stuhl, Spind und eiserner Bettstelle. Oder sie kommen morgens aus dem Ghetto, in das sie abends vor Dunkelheit wieder zurückkehren. Der Glaube an ungute Geister lässt sie bisweilen ihre Bettgestelle mit Backsteinen erhöhen.
Pretoria, mit seinen von Jakaranda-Bäumen gesäumten Straßen. Blüten im Überfluss. Aloe und Maulbeerbaum im Garten.
Die neue Schule mit ungewohnter Schultracht und neuzulernender Fremdsprache, Afrikaans. Morgens, vor Unterrichtsbeginn, stellen sich die Klassen in Sternform auf dem Schulhof auf und singen ein Lied. Vom Frühtau in den Bergen, tralala. Zünftig. In Deutsch.
Die gewohnten Sternbilder am Nachthimmel stehen auf dem Kopf. Es wird sehr plötzlich dunkel, eine ausgeprägte Dämmerung gibt es nicht. Ebenso unvermittelt der Tagesbeginn. Auch Frühling und Herbst fehlen. Heißer Sommer und Regenzeit. Extreme.
Nach einem Jahr der Umzug nach Namibia. Lüderitz. An der Küste gelegen.
Graue Sandwelt, Granitfelsen. Das einzige Grün - mühsam vor dem Haus gezogen - gelb und rosablühende Fettpflanzen.
Der ständige Wind. "Südwester" genannt. Manchmal peitscht der Sand fast wagerecht gegen die nackten Beine. Nadelstiche auf der Haut.
Den Kindern trotz aller Kargheit dennoch ein Paradies. Das Herumlungern im Hafen, wo die Fischkutter ein- und auslaufen. Bisweilen auch größere Schiffe, "Diamantsucher", die den Meeresgrund absaugen, die Kinder werden von den Matrosen mit Achaten in Übergröße beschenkt.
Oder das spanische Frachtschiff, Herumstöbern an Bord, die erste Begegnung mit salzigem Trockenfisch und Rotwein, bei der Ausfahrt aus dem Hafen dann vorne am Bug, einer Gallionsfigur gleich, der Matrose mit scharf gebogener Nase und langem, flattertem Haar. Wie könnte die Beobachterin später einmal je einen anderen Mann heiraten wollen denn einen Spanier?
Der Weg zum nächsten Zahnarzt in Windhoek dauert mit dem Zug zwei Tage und eine Nacht. Auf freier Strecke anhalten und eine Wanderdüne von den Schienen schaufeln ist keine Seltenheit. So wird der Ältesten mit ihren zwölf Jahren schon der erste Backenzahn gezogen. Der Besuch beim Zahnarzt war zu spät erfolgt.
Zur Schule gehört ein Schülerheim. Die Farmerkinder verbringen - bis auf die langen achtwöchigen Weihnachtsferien - ihre gesamte Schulzeit dort.
Auch die Familie wohnt dort, der Vater leitet das Schülerheim.
Zum Frühstück im Esssaal gibt es jeden Morgen den obligatorischen Milliepap, einen dicken Brei aus Maisgrieß, nach Belieben mit Milch und braunem Zucker verbessert. "Milliepap, stywe pap, alle pap is moie pap". Manches steht man nur mit dummen Sprüchen durch.
In der Sturmvogelbucht in einer windgeschützten Kuhle die Hände in den Boden wühlen, die Achate aus dem Sand klauben, den kleinen hellen Skorpion beobachten.
Als die Älteste in der Schule das Gedicht "Die Stadt " von Theodor Storm lernt - "Doch hängt mein ganzes Herz an dir / du graue Stadt am Meer" - da denkt sie, ja genau, so ist das.
Nach zwei Jahren ein weiterer Umzug. Windhoek. Die Hauptstadt von Namibia.
Diesmal wieder viel Grün, auf dem Hügel die Christuskirche, die Hauptstraße mit den vielen großen Läden heißt Kaiserstraße, Wohnen im eigenen Haus, die Deutsche Schule hat ein Schwimmbecken. Die Schultracht ist inzwischen gewohnt. In den oberen Klassen lernen die Kinder Mathematik, Latein und Chemie auf Englisch, Physik und Biologie dagegen auf Afrikaans.
Auf den Bänken im Stadtpark die kleinen Schilder : "Blankes" und "Nie-Blankes". Weiße und Nichtweiße. Ebenso geteilt die Fahrstühle, die Eingänge zur Post, zu Ämtern. In die Christuskirche dürfen nur Weiße. Die Frauen mit Hut.
Die großen stolzen Hererofrauen mit ihren schönen Trachten. Die Namas, Xhosas, Ovambos und viele verschiedene Stammesangehörige mehr. Das Mädchen, inzwischen dreizehn, denkt sich, dass die eigentliche Farbe, in der Gott sich die Menschen gedacht hat, wohl schwarz gewesen sein muss. Und dieses Lachen, aus dem tiefsten Bauch heraus, das sie bei den Weißen nirgends erlebt, das ist das richtige Lachen, so wie es sein sollte. Wo der ganze Mensch lacht...
Auf der Farm sitzen am Sonntag zum Gottesdienst die Schwarzen in Grüppchen unter den Bäumen zusammen. Unter dem einen die evangelischen Ovambos, unter dem anderen die evangelischen Hereros, unter dem nächsten die evangelischen... usw. Das Christentum eint nicht, was die Stämme trennt.
In den Ferien reisen die Eltern viel mit den Kindern im VW-Bus oder Jeep durch das Land. Die Entfernungen der sichtbaren Ziele werden grundsätzlich unterschätzt, wenn man auf der "Pad" unterwegs ist. Der großen Lufttrockenheit wegen.
In den Weihnachtsferien das Zelten am Meer. An der Skelettküste, nördlich von Hentiesbaai, an der Mündung des Ugap, einsam, nur das große Steilwandzelt, der Caravan und der Jeep. Nur Vater, Mutter und fünf Kinder.
Das Spielen am Strand, im gestrandeten Wrack des Fischkutters, das Sammeln der weißgebleichten Robbenschädel. Das spannende Erlebnis, wenn "das Rivier abkommt" - der trockene Flusslauf auf einmal Wasser führt, sich in dunklen Wirbeln ins Meer ergießt.
Die Vorfreude auf die Heimkehr nach Windhoek, wo man endlich wieder auf einer richtigen Klobrille sitzen kann und sich nicht stets mit Papier und Schaufel in die Dünen verziehen muss.
Weihnachten im Wohnwagen, die Kerzen biegen sich in der Hitze. Das ist das einzige, wonach die Kinder Heimweh haben: nach Schnee und Tannengrün an Weihnachten, diese stille Festlichkeit.
Das Erleben der Wildtiere, Kudus, Springböcke, Oryxantilopen, Kaffernbüffel, Giraffen, Elefanten, Dyker, Stachelschweine, Schlangen, verschiedenste Raubtiere, und nicht zuletzt der Vogel Strauss mit seinem rührend-seltsamen Gebaren, wenn er versucht, von seinem Gelege abzulenken.
Und dann das "Südwester-Lied". Altes Nationallied der Deutschen Auswanderer in Namibia. Beim Refrain weint die Mutter meist. "Und der Dornbusch blüht / und die Sonne glüht / und es rauscht das Meer / Grüße von Deutschland her".
Sie denkt an die Großmutter.
Aber das ist immer noch besser als der Refrain der neuen Hymne von
Südafrika: "Ons sal lewe / ons sal sterwe / ons vir jou / Suidafrika". Ich will nicht für Afrika leben und sterben, denkt das Mädchen.
Kurz vor der Heimkehr nach Deutschland, kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag, hat die Älteste ein wesentliches Erlebnis. Das wird sie für ihr weiteres Leben prägen. Existenziell.
Die Familie fährt zum Sossusvlei, den höchsten Wanderdünen der Welt. Unten in der Ebene die getrockneten grauen Lehmflächen, mit gelbgrauem Sand umgeben, der einzige Pflanzenwuchs ein paar trockene Kameeldoornbäume, im Hintergrund ragt der tiefrote, in herrlichen Linien geschwungene Dünensand.
Lange dauert der beschwerliche Aufstieg auf den Dünenkamm, zwei Schritte vor, einen rutscht man wieder zurück, man unterschätzt das leicht, braucht ein Vielfaches der veranschlagten Zeit.
Oben auf dem Kamm der Düne steht sie endlich, unter ihr die riesige, unendliche Sandfläche, über ihr gespannt der wolkenlose tiefblaue Himmel, nichts, was das Auge festhält...
Da hat sie es begriffen: wie groß sie ist, weil sie in allem darin ist, und alles in ihr, und wie klein zugleich, als winziges Teilchen in dieser großartigen Schöpfung. Das war Einssein mit allem pur.
Seitdem trägt sie dieses Erlebnis in sich, wie in alle Zellen eingebrannt, empfindet eine Geborgenheit, aus der sie nicht mehr fallen kann, wohin auch?
Dieses Erleben wird sie auch als erwachsene Frau in ihren größten Dunkelstunden tragen. Das ist das große Geschenk, das Afrika ihr fürs Leben mitgegeben hat.
Wieder in Deutschland zurück fühlt sie sich entwurzelt, ist innerlich wie zerrissen, kein Photo, ohne dass dabei die Tränen laufen. Alles ist zu eng, zu voll, zu grün, zu viele Menschen, Häuser, Autos, sie friert innen und außen.
Nur über eines ist sie voller Freude: nie wieder den festgefahrenen Jeep aus dem Sand buddeln müssen! Im folgenden Winter buddelt sie den VW-Käfer aus dem Schnee...
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