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Kurzgeschichte Afrika Kurzgeschichtenwettbewerb Afrika Kurzgeschichten
Hier und jetzt - Zwei Seiten dieser Erde
© Regina Besting
Ich wache auf und mein Blick fällt sofort auf den Wecker. 7:00 Uhr.
Verschlafen. Wieso kann sie mich nie pünktlich wecken? Mütter! Also schnell machen. Duschen, dafür ist keine Zeit. Heute nicht. Weil sie mich nicht geweckt hat! Schnell waschen, schnell umziehen, schnell Tasche packen, schnell runter in die Küche. Ich sehe es sofort. Brot. In dem hässlichen kleinen Körbchen auf dem Tisch steht Brot! Vater hatte Nachtschicht. Wieso hat er auf dem Rückweg keine Brötchen mitgebracht? Nein, heute ist mir nicht nach Brot. Da verlasse ich lieber gleich das Haus. Hab ja keine Zeit.
Weil sie mich nicht geweckt hat.
Der Weg zur Schule dauert mindestens 15 Minuten. Besonders auf diesem Fahrrad. Gerade mal fünf Gänge! Total veraltet!
Ich trampele so schnell ich kann. Noch vier Jahre, dann kann ich den Führerschein machen. Wenn ich dann verschlafe, dann schwinge ich mich einfach in mein Auto und bin in fünf Minuten in der Schule. Der warme Geruch einer Bäckerei reißt mich aus meiner Träumerei. Ich schau kurz auf meine Armbanduhr. 7:30 Uhr. Ein bisschen Zeit habe ich noch. Ohne lange zu überlegen halte ich an und gehe in den Laden. Endlich ein anständiges Frühstück. Zwei Milchbrötchen und ein Schokoladencroissant. Das wird eine Weile reichen.
Und in der Schulkantine kann ich mir ja noch etwas holen wenn ich Hunger kriegen sollte. Allerdings darf das dann nicht zu teuer werden, denn mein Taschengeld ist so gut wie weg. Eigentlich müssten ja meine tollen Eltern für die Brötchen aufkommen. Aber das kann ich wohl vergessen.
Draußen stecke ich die Tüte in meinen Rucksack, schnalle ihn auf den Rücken und fahre weiter. Dabei fällt mir auch gleich ein, dass ich die Hausaufgaben für Religion noch nicht gemacht habe. Das wollte ich heute vor der ersten Stunde erledigen. Doch dazu reichte die Zeit auf gar keinen Fall mehr. In genau sieben Minuten würde der Unterricht beginnen.
Um 7:37 Uhr erreiche ich die Schule endlich. Gerade noch rechtzeitig. Wenn nicht...
"Hey Ines, auch zu spät?"
Was ist das denn für eine Frage? Die konnte auch nur von Karla kommen. So ein Dämlack!
"Ja Karla, wie man sieht."
Natürlich bemerkte sie den schnippischen Unterton in meiner Stimme nicht, fragte weiter.
"Du sag mal, hast du die Deutschhausaufgaben? Ich hab's einfach vergessen."
Na klar, wer sollte das glauben? Zu blöd ist sie gewesen, das war das Problem. Aber was soll's, ich hab sie ja schließlich gemacht, wieso sollte ich ihr nicht helfen? Irgendwann würde sie das gleiche für mich tun, vielleicht in Mathe... .
Ich lehne das Rad gegen den Zaun, stelle den Rucksack auf den Sattel, halte ihn mit einer Hand fest und öffne ihn mit der anderen. Ich ziehe vorsichtig das Deutschheft heraus. Nicht vorsichtig genug. Gleichzeitig mit dem Heft rutscht auch das Religionsbuch aus der Tasche. Heft in der einen, Schultasche in der anderen bleibt keine Hand mehr übrig um das Buch aufzufangen. Es fällt in eine Pfütze. Doch nicht nur das. Durch meine hilflosen Versuche es aufzuhalten, rutscht auch die Bäckertüte in den Dreck.
Mein Frühstück!
"Blöde Sch... verdammte!"
Dieses dämliche Buch! Wofür brauchen wir das eigentlich? Da jammert die Schule ständig über Geldschwierigkeiten, und dann schaffen sie solchen Mist an. Und meine Brötchen mussten auch dran glauben. Diese dämliche Karla, steht da und beglotzt das alles. Als wäre nichts passiert. Ich könnte sie...
. Nein, könnte ich nicht. Ich bin halt zu gutmütig. Ich gebe ihr das Heft, hebe das Buch und die Tüte auf und gehe ins Gebäude. Das Buch tropft, die Tüte nicht. Die Brötchen müssen sich voll gesogen haben. Auf dem Weg in meinen Klassenraum werfe ich sie in den Mülleimer. Ich betrete den Raum kurz vor der Lehrerin. Der Unterricht beginnt.
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Schreie, Schüsse, Schreie, Lärm. Ich schrecke hoch. Sie sind wieder da.
Sekundenbruchteile später stürzt Mutter auch schon in die kleine Küche, wo mein kleiner Bruder und ich schlafen.
"Marisa, aufstehen! Sofort! Wir müssen weg! Nimm Boukarie und bleibt bloß unten!"
Ich rolle mich von der Küchenbank, die mir als Schlafplatz dient, auf den Boden, krabbele dann zu meinem Bruder unter den massiven Holztisch, den Mutter von ihrem Arbeitgeber, dem Mann bei dem sie putzte und den Garten in Ordnung hielt, geschenkt gekriegt hatte. Unter ihm war der sicherste Platz in unserer kleinen Wellblechhütte. Wenn die zusammenstürzte, der Tisch würde alles aufhalten.
Boukarie schreit. Er hat Angst. Ich verstehe ihn. Habe auch Angst, will schreien, heulen, jammern. Doch ich darf nicht. Bin schon zu alt zum Weinen.
Mit 15 Jahren heult man doch nicht mehr!
Also krieche ich vorwärts zu meinem Bruder, nehme ihn kurz in den Arm und lasse ihn dann vor mir her krabbeln. Schütze ihn, und dabei fällt mir wieder ein, wie oft ich das schon machen musste. Immer und immer wieder kommen sie.
Es sind mehrere Gruppen, niemand weiß wie viele genau. Und sie bekriegen sich schon so lange wir hier leben. Früher, ja da lebten wir ohne die Angst jederzeit erschossen zu werden. In dem Homeland der Sotho, des Stammes meines Vaters, lebten wir nicht gut, doch wir lebten relativ sicher. Als Vater aufhörte Geld zu schicken, wir wissen bis heute nicht, wo er jetzt ist, da musste Mutter handeln. Hier, in Mitchell's Plain, dem größten der vielen Slumgebiete um Kapstadt, konnte Mutter sich viel eher eine Arbeit suchen.
Diese Überfälle waren der Preis. Hunger oder dies. Wir mussten uns entscheiden.
Wir erreichen die Tür. Dort gebückt warten wir auf Mutter. Sie versucht wohl noch die wenigen Wertsachen aus ihrem Raum zu holen, die wir besitzen, damit sie niemand findet, sollte dieses Mal unsere Hütte dran sein.
Das Nächste was ich höre ist ein Schuss in unmittelbarer Nähe. Mutter stürzt sofort aus der Kammer. So schnell wie sie nur kann, kriecht sie zu uns, der Geldbeutel, der ihr um den Hals hängt, in den sie immer das Geld steckt, dass sie verdient, baumelt wild hin und her.
Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hat fliegt die Tür auf.
Männer stürmen herein, an uns vorbei und zu meiner Mutter. Einer reißt sie an den Haaren hoch, zerrt an dem Beutel. Mutter schreit. Ich halte Boukarie die Augen zu. Er soll nicht sehen was passiert. Die Männer würdigen uns keines Blickes, als wären wir nicht da.
"Lauft!" brüllt Mutter uns zu. Ich reagiere sofort, reiße Boukarie herum und schleife ihn mit mir aus der Hütte. Er will nicht mit, will bei seiner Mutter bleiben. Ich kann ihn verstehen, doch es geht nicht. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, was diese Männer in diesem Moment mit ihr machen.
Doch es wäre noch sehr viel schlimmer für sie, und natürlich auch für uns, besonders für den Kleinen, wenn wir es mit ansehen müssten.
Im zweifelhaften Schutz der Nebenstraßen laufen wir durch das Ghetto. Ich nehme viele Abzweige, die nicht nötig wären, habe Angst verfolgt zu werden.
Boukarie hat seinen Widerstand schon lange aufgegeben als die Hütte unserer Tante, Mutters Schwester, auftauchte. Sie ist verfallen und sie, ihr Mann und die fünf Kinder werden nicht mehr sehr lange dort wohnen können. Doch in dieser Nacht erschien sie mir wie erleuchtet. Der sichere Schutz.
Hart schlage ich meine Hand gegen das Blech der Tür, so hart, dass ich schon Angst habe, die Hütte bricht zusammen.
"Tante...Onkel...bitte aufmachen...bitte!"
Erst jetzt merke ich die Ausmaße meiner Erschöpfung. Die Tür öffnet sich.
Wortlos zieht mein Onkel uns hinein. Drinnen sind alle versammelt.
"Sie sind bei euch?"
Natürlich weiß die Tante sofort was los ist, los sein muss. Denn normalerweise traut sich niemand nachts auf die Straßen des Ghettos, wenn es sich nicht irgendwie verhindern lässt. Ich nicke trotzdem. Keine weiteren Worte. Schweigend deutet sie auf die Schlafstellen. Es würde eng werden, aber es muss reichen.
Boukarie schläft sofort. Wie kann ein Kind nur nach diesem Schrecken so schnell einschlafen? Oder geht es gerade weil er ein Kind ist? Er kann sich an das Homeland sicher nicht erinnern, ist hiermit aufgewachsen, für ihn ist es normal.
Wirklich schlafen kann ich nicht. Ich schließe nur die Augen, damit sie nicht brennen.
Wieder Krach, ein Donnern. Ich schrecke hoch. Der Onkel öffnet die Tür.
Mutter. Und wie sie aussieht! Ich schließe gleich wieder die Augen. Kann das nicht sehen. Bis zum Morgen reden sie, weinen, fluchen. Will es nicht hören, versinke in Phantasie.
Kurz eingenickt bin ich dann doch. Wache auf als Mutter mich an die Schulter fasst und kurz rüttelt.
"Wach auf, wir gehen nach Hause."
Nichts weiter. Ich wecke meinen Bruder, wir stehen auf und gehen nach Hause.
Mutter geht vor und wir folgen, so wie wir es immer machen, damit sie den Weg bestimmen und mögliche Gefahren im Voraus erkennen kann.
Zielstrebig geht sie auch dann noch weiter, als ich schon entsetzt stehen geblieben bin. Wo einmal die Hütten unserer Nachbarn standen, war nichts mehr als Müll und aufgehäuftes Blech. Nur sehr wenige standen noch. Unter anderem unsere. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Mutter hatte tun müssen um die Männer dazu zu bewegen unser Heim stehen zu lassen.
"Komm!" sage ich zu meinem kleinen Bruder, der dasteht und versucht zu verstehen, was geschehen ist.
Wir betreten die Hütte. Sie ist verwüstet. Der Tisch ist weg, sie haben ihn mitgenommen. Auf dem Schwarzmarkt werden sie sicher ein paar Rand dafür bekommen.
Schlagartig wird mir etwas klar. Ich gehe zu Mutter. Sie steht mit dem Rücken zu mir. Ich fasse sie sanft an der Schulter und drehe sie um. Ich sehe Tränen. Und auch noch etwas anderes. Oder besser, ich sehe es nicht.
Der Beutel! Er ist weg. Wie sollte es nun weiter gehen? Wir haben kein Essen mehr da, natürlich hatten sie auch das mitgenommen. Ich sehe mich um.
Schweigend streift mein Blick jeden Winkel der Hütte, über die Abfälle am Boden, die schmutzigen Decken, die sie dagelassen haben, meinen Bruder, der noch immer an der Tür steht. Schließlich bleibt er an dem kleinen Ofen hängen. Ich gehe hin und greife hinter ihn. Sie ist noch da! Meine Schultasche. Ich habe sie gestern Nachmittag dort versteckt, wie ich es jeden Tag mache. Sie ist mein ganzer Stolz. Während die meisten meiner Freunde ihre Schulbücher mit einem einfachen Lederriemen zusammenhalten müssen, habe
ich diese Tasche aus hellbraunem Leder. Die Chefin meiner Mutter hatte sie mir geschenkt, als Mutter ihr stolz erzählt hatte, dass ich mit 14 nicht die Schule verlassen hatte, wie viele andere Kinder des Slums, sondern einen Abschluss machen wollte. Sie hatte vorher ihrem jüngsten Sohn gehört und sah schon etwas gebraucht aus. Aber sie gehörte jetzt mir. Es war wirklich großes Glück, dass die Männer sie nicht gefunden hatten.
Nur einen Moment zögerte ich. Ohne Geld keine Schule. So sind die Regeln.
Jede Woche müssen wir Geld für das Schulessen mitbringen. Das ist Pflicht.
Die Schulleitung hatte schnell herausgefunden, dass schlechte Leistungen im Unterricht direkt mit dem Hunger der Schüler zusammen hingen. Die Schuluniform, die Bücher, Hefte, Stifte... . Alles kostet Geld.
Ohne Geld keine Schule. Was soll ich da noch mit der Tasche?
Ich ziehe sie hervor, leere sie und rieche noch einmal an dem abgewetzten Leder. Dann gebe ich sie Mutter. Sie würde eine ordentliche Summe ergeben.
Und Mutter nimmt sie und geht.
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Es klingelt. Die letzte Stunde ist um. 12:45 Uhr. Endlich kann ich nach Hause. Wird aber auch Zeit! Sonst ist noch der ganze Nachmittag versaut.
Schnell aus dem Gebäude raus. Draußen läuft mir wieder Karla über den Weg.
"Und? Was machst du jetzt? Hast du schon was vor?"
Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Nachmittag mit Karla. Da doch lieber Schule!
"Sorry, ich habe tatsächlich schon was vor", lüge ich.
"Oh, schade, na gut, tschüs."
"Tschüs", brumme ich, froh sie los zu sein.
Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und hoffe ein anständiges Mittagessen zu bekommen.
Zu Hause angekommen schmeiße ich das Rad auf die Wiese des Vorgartens. Dann gehe ich hinein.
"Noch eine halbe Stunde, Schatz. Heute gibt es Spaghetti."
Schön! Das ist gut. Solange es Fleischsoße dazu gibt und nicht bloß Ketchup, ist das sehr gut! Ich schmeiße den Rucksack in die Ecke meines Zimmers, rolle mich auf mein Bett, greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher an. Ich mache mir schon lange nicht mehr die Mühe ihn immer ganz auszumachen. Wozu gibt es denn die Stand-By Funktion?
Die 13 Uhr Nachrichten eines Boulevard-Magazins laufen noch.
"...halten die Unruhen um Kapstadt an. In der Nacht überfielen mehrere Jugendgangs das Slumgebiet Mitchell's Plain der südafrikanischen Hafenstadt.
Die dort lebende Bevölkerung flüchtete in weniger bis gar nicht betroffene Gebiete oder in die Stadt selbst. Durch den Schutz des Tages angelockt kehrten sie bei Sonnenaufgang wieder zu ihren größtenteils verwüsteten oder zerstörten Hütten zurück, als die zweite Welle des Überfalls begann. Im Laufe des heutigen Vormittags wurden dabei ganze Straßenzüge vernichtet. Die südafrikanischen Behörden sprechen von einem Desaster unermesslichen Ausmaßes. Bisher wurden 23 Tote bestätigt, doch weitere werden unter den Trümmern
vermutet. Eingerichtete Krisenzentren und Notaufnahmen sprechen von hunderten Verletzten. Welche menschlichen Dramen sich in Mitchell's Plain abgespielt haben müssen, lässt sich an dem Schicksal eines kleinen, schwer verletzten Jungen erkennen. Er wurde vor einer Stunde aus den Trümmern seiner Hütte geborgen. Gefunden wurde er unter der bereits kalten Leiche eines Mädchens, das vermutlich seine Schwester war. Die Polizisten vermuten weiter, dass das Mädchen ihren Bruder mit dem eigenen Körper geschützt hat und
ihm so das Leben rettete. Die Ärzte schätzen den Jungen auf etwa vier Jahre, fügten bei einem Interview allerdings hinzu, dass dies Aufgrund starker Unterernährung nicht sicher zu bestimmen sei. Ob er überleben wird ist noch nicht sicher.
Zum Sport..."
Ich schalte um. Auf dem nächsten Sender laufen die Simpsons.
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