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Zwei Liebesgeschichten - Oder: Die Reise nach Afrika
© Petra Reategui
1.
Ihre erste Reise unternahm Sybille Theodora Stuck im zarten Alter von viereinhalb Jahren. Doch die wenigen Wochen in Möningskoog an der Ostsee behielt sie ihr ganzes Leben lang in lebhafter Erinnerung.
Natürlich nicht die unwichtigen Dinge wie das Waschen am Morgen oder vor dem abendlichen Zubettgehen, das ihre Tante Odilie aus ihr unerfindlichen Gründen für wichtig hielt und es mit heiligem Ernst und gerunzelter Stirn tagtäglich zelebrierte. Auch nicht die Besuche im Stadthaus-Café, wo Sybille Theodora süße heiße Schokolade bekam und eine Meringe mit einer Kugel Vanilleeis, und Tante Odilie sich immer mit einem Herrn traf, der einen Schnäuzer trug und ihr, Sybille Theodora, jedes Mal in die Backen kniff oder
ihre Nase zwischen seinen Zeige- und Mittelfinger quetschte und sie mit neckischer Stimme fragte: "Na, wie geht's denn, junge Dame?"
Nein, an diese unwichtigen Caféhausbesuche konnte oder wollte Sybille Theodora Stuck sich nicht erinnern. Erst sehr viel später erzählte ihr Tante Odilie, als diese bereits eine verwitwete Wippermüller war, wieder davon. So erfuhr Sybille Theodora auch, dass sie die Freundlichkeiten des Herrn mit dem Schnäuzer nicht sehr geschätzt habe, denn einmal habe sie ihm heftig in den Finger gebissen, worüber Tante Odilie noch als gesetzte alte Dame maliziös lächelte. Denn da der Herr mit dem Schnäuzer kleine zubeißende
Kinder wohl nicht mochte, hörten die Besuche im Stadthaus-Café bald auf. Stattdessen traf sich Tante Odilie von nun an mit Herrn Wippermüller im Café an der Mühle.
Sybille Theodora mochte Herrn Wippermüller von Anfang an, weil er so schön nach Kakao, Vanille und Schokolade roch, und sie immer auf seinen Schultern reiten durfte, ganz egal wie dreckig ihre Schuhe waren. Und wie ihr Tante Odilie später sagte, habe sie Herrn Wippermüller, den sie bald Onkel Hermann nennen sollte, nie in die Finger gebissen, nicht einmal, als sie eine Fliege ins Auge bekam, und Herr Wippermüller oder Onkel Hermann fünf Minuten brauchte, bis er das Tier mit einem hellblauen Taschentuch umständlich
aus ihrem Auge herausgefischt hatte. Vielleicht mochte sie Herrn Wippermüller aber auch, weil er immer lächelte, selbst wenn er behauptete, er sei todernst.
Tante Odilie ging also nicht mehr ins Stadthaus-Café, sondern besuchte nun das Café an der Mühle, wo es allerdings keine Meringe mit Eis gab. Wie Tante Odilie ihr später erzählte, wollte sie, Sybille Theodora, aber um keinen Preis eines der vielen Kuchenstücke in der Glasvitrine probieren, sondern verlangte einzig und allein und unter Tränen nach Meringe mit Eis. Es war eben jener Herr Wippermüller, der zufälligerweise auch gerade im Café an der Mühle am Kuchenbuffet stand, dem es gelang, Sybille Theodora von
den Vorzügen eines Nougatkringels zu überzeugen, und weil er nun schon einmal mit Nichte und Tante ins Gespräch gekommen war, setzte er sich zu ihnen an den Tisch, "Gestatten, Wippermüller!", und erzählte von der Schokoladenfabrik, die er einmal von seinem Vater erben würde und in der er jetzt im August gerade die Schokoladennikolausproduktion für das kommende Weihnachtsfest vorbereitete. Während er so redete, entdeckte Herr Wippermüller die blassblauen Augen von Tante Odilie und bemerkte das kleine
blonde Löckchen, das sich immer vorwitzig über ihrem rechten Ohr kringelte, und er mag bei sich gedacht haben, dass der Schokoladennikolaus unbedingt eine Frau bekommen müsse. Denn am Nikolaustag desselben Jahres wurde aus Tante Odilie Frau Wippermüller, und die Kinder in Möningskoog an der Ostsee fanden viele Jahre lang zu Weihnachten auf ihrem Gabentisch neben dem Nikolaus in Schokolade auch eine Frau Nikolaus, und auf dem Stanniolpapier war über dem rechten Ohr eine glänzend blonde Kringellocke aufgemalt.
Und das alles wegen der Tränen von Sybille Theodora vor dem Kuchenbuffet im Café an der Mühle in Möningskoog an der Ostsee.
Dass Herr Wippermüller fünf Jahre jünger war als Tante Odilie, erregte zur damaligen Zeit die Gemüter. Zum folgenschweren Skandal kam es, als die neunzehnjährige Tochter des Likörlieferanten, die sich - übrigens ganz unberechtigterweise - Hoffnung auf den Namen Wippermüller gemacht hatte, Tante Odilie am Tag der Verlobung vor den Augen aller zur Feier eingeladenen Gäste ins wundervoll dralle und vor Erregung zitternde Dekolleté spukte. Die Familie des Likörlieferanten wurde daraufhin höflich aber bestimmt gebeten,
das Haus der Verlobung zu verlassen, und noch am selben Tag ließ Vater Wippermüller die bereits bestellten Likör- und Schnapslieferungen für die Pralinéproduktion stoppen und bestellte bei einem Händler im Nachbarort. Fünf weitere Möningskooger Geschäftsleute folgten seinem Beispiel.
Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, blieb der Altersunterschied zwischen Tante Odilie und Onkel Hermann für einige Zeit eines der herausragenden Gesprächsthemen in den Friseursalons und Barbierstuben, auf dem Markt und in den Vorzimmern der Schokoladenfabrik. Aber Tante Odilie hatte sich nie um die Meinung von Nachbarn, Verwandten und angeblichen Freunden geschert; sie fand Herrn Wippermüller mit seinen achtundzwanzig Jahren einfach zum Anbeißen süß und war im Übrigen der Meinung, dass es für sie langsam
an der Zeit wäre, Kinder zu bekommen. Und so wurden nacheinander Katharina, Leo und Elisabeth geboren und sieben Jahre später, für alle überraschend und genau neun Monate nach einem Kurztrip des Ehepaares nach Venedig, schließlich auch noch Hans Georg. Nun standen ganze Nikolausfamilien wie die Orgelpfeifen unter den Christbäumen, und es gab sogar Familien, die ganze Jahrgänge von Schokoladennikolauskindern sammelten, weil diese nämlich jedes Jahr in andere fantasievolle Stanniolkleider eingewickelt waren.
Aber wie gesagt, an das frühe Liebesleben ihrer Tante Odilie konnte sich Sybille Theodora nicht mehr richtig erinnern und auch nicht an einige andere Vorkommnisse während dieser ersten Reise ihre Lebens. Dass diese sich dennoch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingegraben hat, lag an einem kleinen Jungen, in den sie sich damals für immer und ewig verliebt hat. Nur, dass sie damals noch nicht wusste, dass es so etwas wie Liebe gibt.
2.
Das mit der Reise nach Möningskoog war so gekommen: An einem warmen Sonnentag kam Tante Odilie zu Besuch. Mutters Bauch war in den letzten Wochen rund und schwer geworden, und sie hatte ihr erzählt, sie würde noch einmal ein Schwesterchen oder ein Brüderchen bekommen. Sybille Theodora fand das in Ordnung, hielt sie doch ihre langweilige Schwester Lisbeth Annemie, die stundenlang nur lalala sang und nicht mal richtig laufen konnte, für gänzlich ungeeignet zum Spielen. Tante Odilie hatte ihr zwar versichert, das
käme noch, das mit dem Laufen, und irgendwann würde Lisbeth Annemie auch sprechen können, aber Sybille Theodora glaubte ihr nicht und setzte ihre ganze Hoffnung auf das neue Kind. Vorerst aber sollte sie mit Tante Odilie verreisen. Zuerst protestierte sie, aber als ihr Tante Odilie versprach, sie würden mit dem Zug ans Meer fahren, im Sand Burgen bauen, am Kai Fische fangen und jeden Tag heiße Schokolade trinken, ließ sie sich umstimmen. Das war doch etwas anderes, als mit der sprachlosen Lisbeth Annemie Bauklötze
übereinander stapeln, und als ihre Mutter ihr dann noch versicherte, dass auch Lisbeth Annemie weggeschickt und zur Großmutter gebracht würde, war sie gänzlich getröstet. Das geschah der blöden Lisbeth Annemie ganz recht, zur Großmutter, wo es immer Grießbrei gab und warme Milch mit Haut.
Obwohl sie doch ein klein wenig neidisch war, dass Lisbeth Annemie dann ganz allein auf Großmutters Schoß würde sitzen dürfen, während diese schaurig-schöne Geschichten von Riesenvögeln, Drachen und Engeln vorlas. Sie beschloss, alle ihre Bücher vom Kinderzimmer auf ihre Reise ans Meer mitzunehmen, damit Tante Odilie ihr daraus vorlesen könnte. Leider entdeckte ihre Mutter kurz vor der Abreise, dass sie weder Strümpfe noch Unterhosen in ihren kleinen Koffer gepackt und auch großzügig auf Zahnbürste und Waschlappen
verzichtet hatte. So wanderten alle Bücher bis auf eines, in dem ein blauer Luftballon um die ganze Erde segelte und um das sie laut schreiend kämpfte, wieder zurück ins Regal. Wenigstens durfte sie aber ihren dunkelblauen Lieblingspullover mitnehmen, obwohl der so dick war, dass er fast den ganzen Koffer ausfüllte, und es kaum mehr Platz für etwas anderes gab.
An der Hand von Tante Odilie stieg Sybille Theodora nach einer langen Fahrt in Möningskoog aus dem Zug, und weil Tante Odilie die Nase hochstreckte, in die Luft schnupperte und sagte: "Hm, ich kann schon das Meer riechen", streckte Sybille Theodora auch die Nase in die Luft und schnupperte. Sie wusste nicht, wie das Meer roch, denn sie hatte noch nie zuvor Meer gerochen, aber sie nickte zustimmend: "Ich riech' es auch". Vor allem aber roch sie den warmen Duft von frischem Brot und Hörnchen,
der von der Bahnhofsbäckerei herüberwehte. Und den kannte sie sehr gut, denn die Wohnung, in der sie mit ihren Eltern und der blöden Lisbeth Annemie wohnte, lag genau über einer Bäckerei.
Jeden Morgen wachte sie auf und roch Schweizer und Kommissbrot, Rosinenwecken und Laugenbrezeln. Für gewöhnlich rekelte sie sich noch ein bisschen unter der schlafwarmen Decke, dann sprang sie aus dem Bett, öffnete das Fenster - auch wenn es regnete - und sog die vertrauten Gerüche ein. Gleich nach dem Frühstück schlich sie auf Zehenspitzen in die Backstube, stibitzte etwas Marzipan, das in die Hörnchen gehörte, tippte mit dem Zeigefinger in die verstreuten Reste von Kakaopulver auf dem Knettisch und leckte einen
kleinen Löffel sauber, an dem noch die süße, weiße Meringemasse klebte.
Sybille Theodora überzeugte also ihre Tante, dass hier am Möningskooger Ostseebahnhof der Hörnchenduft noch verlockender roch als das Meer, und so marschierte Sybille Theodora, in der linken Hand das Köfferchen mit dem dunkelblauen Pullover und dem Luftballon-Buch, in der rechten ein Marzipanhörnchen, bald frisch gestärkt und zufrieden neben Tante Odilie zu ihrer Ferienpension.
3.
Dort, wo in Möningskoog die Fischkutter anlegten, wenn sie mit Kästen voll glibberigen, glitzernden und zappelnden Fischen vom Meer zurückkamen, war die Kaimauer für ein kleines Mädchen wie Sybille Theodora gefährlich hoch. Nur an Tante Odilies Hand wagte sie einen mutigen Blick hinunter in das schwarze Wasser, denn dort tummelten sich, wie ihr ein alter Fischer erzählt hatte, böse Kraken und Seedrachen. Einmal sei er genau hier an dieser Stelle ins Hafenbecken gesprungen, um einen kleinen roten Hut aus dem Wasser
zu fischen, den der Wind einer Frau vom Kopf geweht hatte. Er schaukelte auf den dunklen Wellen wie ein kleiner Luftballon und trieb schon aufs offene Meer hinaus. Die Frau kreischte so sehr, dass es ihn erbarmte, und so sei er also hinterher gesprungen und habe in diesem Augenblick überhaupt nicht an die gefährlichen Kraken und Seedrachen gedacht. "Und dann?", fragte Sybille Theodora und vergaß das Eis in ihrer Hand, das schmolz und auf ihre Finger tropfte. "Nun ja", erinnerte sich der Fischer,
"zuerst schwamm ich ein paar Züge hinter dem Hut her, ich hatte ihn auch schon fast erreicht, als ich plötzlich merkte, dass mich irgend 'was am rechten Bein zog. Ich schluckte Wasser und ging unter." "Und dann?", drängte Sybille Theodora wieder und leckte das letzte bisschen Eis, das noch in der Eistüte verblieben war. "Nun ja", sagte der Fischer, "zuerst war alles schwarz, erst als ich auf Grund stieß, getraute ich mir, die Augen aufzumachen, und da sah ich, dass ein riesiger
Krake alle seine Arme um mein Bein geschlungen hatte und mich mit roten Augen anstarrte und dann kamen andere Kraken angeschwommen und zwei Seedrachen und ein blauer Fisch mit einer langen Säge am Maul und da dachte ich, jetzt musst du was machen, sonst ist der rote Hut längst draußen auf dem Meer und du wirst deine Agatha, die damals meine Freundin war, nie wieder sehen." Der alte Fischer fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn und sah auf Sybille Theodora hinunter. "Willst Du wissen, wie's
weiterging?" Sybille Theodora nickte. "Mir war eingefallen, dass ich einmal in einem Buch gelesen habe, dass man in Afrika Löwen, die einen angreifen, mit den Fingern in die Augen sticht. Dann würden sie sofort stehen bleiben. Ja nun, hab' ich gedacht, vielleicht klappt das auch bei einem Kraken, und ich habe so fest, wie ich konnte, dem Kraken alle meine Finger in die roten Augen gestochen. Und was glaubst du, was passiert ist? Das Ungeheuer hat sofort mein Bein losgelassen und ich bin wie eine Rakete
an die Oberfläche gesaust, genau neben das rote Hütchen. Die Frau hat geweint vor Freude, als ich es ihr auf dem Kai überreichte, nur meine Agatha, die damals meine Freundin war, hat geschimpft, als sie mich mit den nassen Kleidern sah." "Und dann?" fragte Sybille Theodora. "Ja, dann", sagte der Fischer "dann hab' ich mir 'ne trockene Hose angezogen."
"Kraken und Seedrachen! So ein Blödsinn!" Der Herr mit dem Schnäuzer vom Stadthaus-Café, den Tante Odilie kurz zuvor kennen gelernt hatte, lachte überheblich, als er die Geschichte hörte. Aber Sybille Theodora dachte, selber blöd! Der weiß ja gar nichts, der war ja noch nie von der Kaimauer ins Wasser gesprungen, um einen roten Hut zu retten, und sie kräuselte ihre Nase und schnupfte laut die Luft hoch.
Das Möningskooger Hafenbecken hatte die Form eines Us. Wenn Tante Odilie und Sybille Theodora zum Meer gingen, packten sie zwei Handtücher in eine große Tasche, ein Buch für Tante Odilie und eine Schaufel für Sybille Theodora. Dann wanderten sie hinunter zur Hafenstraße, überquerten sie, aber statt nun sofort links zum kleinen Strand zu gehen, gingen sie immer zuerst nach rechts über den mit Kastanien bestandenen Kirchplatz und kauften im Café hinter der Kirche zwei Kugeln Eis für Sybille Theodora und eine für
Tante Odilie. Von hier waren es dann nur noch ein paar Schritte bis zum Meer, das laut klatschend an die Buhne vor der rechten Hafenmauer schwappte. Langsam schlenderten sie um das ganze Becken herum, vorbei an den Fischerbooten und Räucherhütten, an den drei Sitzbänken, die entlang der Hafenstraße aufgestellt waren und weiter nun die linke Kaimauer hinunter bis wieder vor ans Meer. Dort machte die Kaimauer einen Knick nach links und ging über in eine breite Uferpromenade. Männer und Frauen flanierten untergehackt
im Sonnenlicht, auch Tante Odilie tat dies später mit Herrn Wippermüller, ein paar Jungen rannten unter lautem Geschrei einem Ball hinterher, und Mädchen spielten Hüpfekasten oder Murmeln. An zwei Stellen führten fünf oder sechs Stufen hinunter zum Strand. Wenn Sybille Theodora und Tante Odilie dort angekommen waren, hatten sie ihr Eis aufgegessen.
Sybille Theodora saß am Rand der Uferpromenade gleich neben der Treppe und baumelte mit den nackten Beinen. Der alte Fischer, der den Kraken besiegt hatte, fuhr mit seinem Schiff hinaus aufs Meer. Sie erkannte den Kutter an dem dunkelblauen Wimpel, der an der Mastspitze flatterte, und schaute ihm nach. Plötzlich sah sie zwei Beine neben sich. Dass sie ebenso nackt waren wie die ihren, war nicht das Besondere. Das Besondere war, dass sie wundersamer weise genauso leuchtend tiefbraun war wie die Schokoladenfiguren
in Herrn Wippermüllers Schokoladenfabrik. "Der fährt nach Afrika", sagte der Junge neben ihr und deutete mit ausgestrecktem Arm auf ein Schiff, das weit draußen auf dem Meer an Möningskoog vorbeizog. Dann setzte er sich neben sie und ließ ebenfalls die Beine baumeln. Der Junge war ein bisschen größer als sie und er sah überall aus wie Schokolade. Sybille Theodora fand, er roch auch ein bisschen nach Schokolade und sie rückte ein wenig näher an ihn heran. Zuerst saßen sie nur da und schauten dem Schiff
hinterher, das auf die andere Seite des Horizonts fuhr, dorthin, wo Afrika lag. Nach einer Weile schob Sybille Theodora ihre linke Hand in die rechte des Jungen, wie sie es bei Tante Odilie und Herrn Wippermüller gesehen hatte. Außerdem wollte sie wissen, ob die schokoladenbraune Hand in ihrer Hand ebenso schmilzt wie die Schokolade aus Wippermüllers Schokoladenfabrik. Als sie merkte, dass die braunen Finger auch nach ein paar Minuten noch richtige Finger waren, begann Sybille Theodora die Geschichte von dem
Löwen und dem Kraken zu erzählen, und wie man sich gegen beide verteidigen kann. Der Junge nickte. Von diesem Tag an saß er jeden Nachmittag an der Kaimauer und wartete auf Sybille Theodora, um mit ihr gemeinsam nach Kraken zu tauchen oder auf Holzschiffchen nach Afrika zu reisen. Und natürlich kam er mit ins Café an der Mühle und in Wippermüllers Schokoladenfabrik, wo der gutmütige Herr Wippermüller ihnen beiden dicke Bruchschokoladenstücke zusteckte.
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Später, als Sybille Theodora wieder zu Hause war und ein kleiner Johannes Dominique in der Wiege schrie, schlich sie sich hinunter in die Backstube im Erdgeschoss. Wenn der Bäcker Nougatschnitten aus dem Ofen zog oder Marmorkuchen mit Schokoladenguss verzierte, roch sie den schokoladebraunen Jungen aus Möningskoog und hörte den Dampfer tuten, der auf die andere Seite des Horizonts nach Afrika fuhr. Als sie dann zehn oder elf war, bat sie den Bäcker, ihm beim Backen helfen zu dürfen. Dieser ließ es sich nicht
nehmen, ihr so wie früher immer etwas Süßes zuzustecken, eine Meringe, die zerbrochen war, oder das letzte Stück eines saftigen Schokoladenkuchens. Er drückte ihr auch jedes Wochenende ein paar Pfennige in die Hand und dafür trug Sybille Theodora mit dem Fahrrad Brötchen aus. Manchmal bekam sie noch ein paar Groschen von den Kunden, denen sie die Tüten vorbeibrachte. Vor ihren Geschwistern versteckte sie das Geld in einem blauen Tontopf, den sie hinter ihren Büchern im Bücherregal verbarg. Sie wußte genau, was
sie mit dem ersten selbst verdienten Geld kaufen wollte. Eine dieser dicken Weltkugeln, die sich drehen ließen und von innen beleuchtet waren. Dann würde sie abends im Bett mit den Augen zuerst nach Italien reisen und von dort übers Mittelmeer nach Afrika. Sie würde den Jungen aus Möningskoog wieder finden und gemeinsam würden sie die Sahara und den Niger überqueren und durch die Urwälder am Kongo wandern. Im Victoriasee würden sie mit einer langen Angel Fische fangen und auf dem Kilimandscharo Schnee schippen.
Und endlich würden sie in eine rote Steppe kommen, wo die Löwen wohnten, aber sie hätten keine Angst, denn sie wussten ja, wie sie sich verteidigen müssten: indem sie dem Löwen die Finger in die Augen stechen.
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