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Flucht aus Afrika
© Wiebke Czerwinski
Es geschah vor sechs Tagen. Ich lebte in einem namenlosen Dorf in Tschad nah der Sahara. Mein Dorf war geplagt von Hunger und Krankheiten. Ich glaube eigentlich nicht an Gott, doch dort habe ich gelernt zu beten und ich danke Gott, dass mein Bruder und ich von jeglichen Krankheiten verschont blieben. Vor dem Hunger ist hier keiner sicher. Unsere Mutter starb bei der Geburt von Nelio. Ich war damals ungefähr vier Jahre alt und gab meinem Bruder die Schuld. Inzwischen jedoch weiß ich, dass er nichts dafür konnte.
Unser Vater wurde der Mittelpunkt unseres Lebens, denn er war der einzige dem wir unsere Liebe jetzt geben konnten. Er zog uns auf, lehrte uns viele Weisheiten und spielte mit uns bis zum Umfallen. Vor sechs Tagen schließlich geschah das Unfassbare. Ich kam gerade vom Wasserholen zurück. Vater lag auf dem einzigen Bett in der Hütte. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ich ging zu ihm, um ihn spielerisch zu wecken, denn um diese Zeit schlief man bei uns normalerweise
nicht, wegen der Hitze konnte dies auch keiner. Als er sich nach einer Weile immer noch nicht regte, beschlich mich eine Welle der Angst. Gänsehaut krabbelte meine Beine hoch. Ich wich zurück und wusste schlagartig, warum er sich nicht bewegte. Nelio kam in die Hütte und blieb wie angewurzelt stehen. Er schaute von meinen geröteten Augen zu Vater und wieder zu mir. Ich denke er begriff, was passiert war. Es schepperte. Ich hatte, ohne es zu merken den Wassereimer losgelassen. Nelio rannte aus der Hütte und
ich fiel neben Vater auf die Knie. Seine Hand war warm, als ich sie in die meine tat. Nelio kam mit dem Medizinmann und zwei weiteren Männern zurück. Der Medizinmann untersuchte Vater gründlich. Kurz darauf schüttelte er den Kopf und meinte, es sei nichts mehr zu machen. Er sei an einer der umhergehenden Seuchen gestorben. Der Schock packte mich eiskalt, es dauerte eine Weile, bis ich anfing zu schreien. Ich schrie Vaters Namen, ich weinte und schlug um mich, als die Männ er mich weghoben, als sie mich von dem
Mann weghoben, dem ich meine ganze Liebe geschenkt hatte. Nelio nahm meine Hand und zog mich mit sich, den Männern hinterher, die Vater wegtrugen.
In unserem Dorf starben viele. Meist an den Folgen des Hungers oder der Seuchen, nur selten wurden welche dreißig Jahre alt. Ich hatte jedoch nie gedacht, dass Vater dies auch treffen könnte. Ich dachte Gott würde uns nach Mutters Tod verschonen. Ich hatte mich geirrt.
Nach dem Begräbnis rannte ich in unsere Hütte und packte wie in Trance meine Sachen. Ich wollte nur noch weit weg. Nelio war mir hinter her gerannt und meinte, er würde mir folgen, wohin ich auch ginge. Ich nickte stumm. Am nächsten Tag verließen wir das Dorf in der Hoffnung den Schmerz in unserem Herzen überwinden zu können
Die Sonne scheint heiß auf unsere schwarzen Körper. Wir fühlen uns wie im Feuer der Hölle. Seit fünf Tagen marschieren wir am Rand der Sahara in Richtung Ägypten. Ich und mein kleiner Bruder Nelio. Unser Ziel ist die Flucht aus Afrika.
Wir wissen, was es bedeutet Hunger zu haben und unter extremer Hitze zu marschieren. Doch es ist was anderes, wenn man nicht weiß, ob man jemals irgendwo ankommt. Wir laufen ins Nichts, seit fünf Tagen. Jegliches Zeitgefühl ist verloren gegangen. Wir haben zum Glück nur wenig Gepäck, denn wir besitzen beide nur wenig. Es waren einmal Missionare in unserem Dorf, die haben mir eine Karte von Afrika gezeigt. Ich habe versucht sie mir einzuprägen. Ich schätze wir sind jetzt in der Lybischen Wüste oder auch schon
weiter, ich weiß es nicht. Die Hitze ist so unerträglich. Wir gehen schnell, glauben es jedenfalls, ohne zu sprechen. Das kostet zu viel Kraft.
Wieder sind zwei Tage rum. Ich habe das Gefühl wir stehen dem Tod gegenüber. Gestern haben wir eine kleine Oase gefunden, wo wir unsere Wasservorräte auffüllen konnten. Was anderes haben wir nicht. Nur Wasser. Jeden Tag. Es ist die Hölle. Ich sehe jeden Tag Fata morganas. Nelio auch und ich muss ihn immer zurückhalten zu ihnen zu rennen, denn es gibt sie ja gar nicht. Ich bin mir inzwischen nicht mehr sicher, ob wir überhaupt in Richtung Ägypten gehen. Ich vertraue einfach auf meinen Orientierungssinn, der besagt,
dass wir nach Nordost müssen. Die Sonne ist unsere einzige Orientierung. Es ist ein Wunder, dass wir noch aufrecht gehen können. Ich bin am Rande meiner Kräfte und glaube nicht, dass wir jemals die Pyramiden sehen werden. Das Wissen so hilflos gegen die Natur zu sein und sich ihr unterwerfen zu müssen ist schrecklich.
Der zehnte Tag. Ich denke inzwischen nur noch an Essen. Meine verbrannten Füßen gehen automatisch über den heißen Sand. Wir dürfen niemals lange an einem Platz verweilen, denn die Gefahr einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen ist einfach zu groß. Ich glaube Nelio ist am Rande des Wahnsinns, so sieht er jedenfalls aus. Ich habe Angst um ihn und mache mir Vorwürfe ihn mitgenommen zu haben. Er ist immerhin vier Jahre jünger als ich. Unsere Glieder werden immer schwerer, ich bin kurz vorm Aufgeben, kurz davor
mich der Natur zu unterwerfen, da ruft Nelio plötzlich: "Nyo, Nyo, da vorne. Ich glaube das sind Pyramiden." Ich hebe meinen trägen Kopf und sehe das in der Hitze verschwommene Antlitz der ägyptischen Pyramiden. Zum Ersten mal in meinem Leben. Meine Augen werden feucht und die Erschöpfung ist vergessen. Der Kampf gegen die Natur. Wir haben ihn gewonnen. Wir! Menschen. Ich umarme Nelio und kann es nicht fassen.
Ich habe das Gefühl wir gehen schwebend auf die Pyramiden zu. Der Schmerz in den Füßen ist weg. Wir gehen direkt an den gewaltigen Pyramiden vorbei auf eine Stadt zu. Sie glitzert. Mir kommt sie vor wie das wartende Paradies, das wir uns verdient haben. Nelio hüpft neben mir auf und ab: "Dort gibt es sicher was zu essen", meint er. Ja, dort ist bestimmt keine Hungersnot. Ich lächele. Die Stadt erscheint mir als leuchtender Punkt in der trockenen Einöde der Wüstenlandschaft. Ich glaube wieder an Gott,
denn er hat uns den Weg gezeigt und uns vor dem Hungertod bewahrt.
Wir gehen durch die Strassen der Stadt. Den Namen weiß ich nicht. Das leuchten hat sich verloren. Öde Sandhäuser, leere Strassen, bettelnde Kinder zu denen wir auch zählen. Es gibt hier viele weiße Menschen. Nelio meint, er habe Hunger, doch was soll ich dagegen tun. Ich bin die große Schwester, ich weiß, doch was kann man gegen die Erbarmungslosigkeit der Leute tun. Keiner hat Mitleid. Wir betteln Tag und Nacht. Verkäufer schreien uns an, sie hätten nichts für bettelnde Strolche über. Sind wir Strolche? Ich
versteh ich diese Worte nicht. Wir haben doch nur Hunger. Warum hilft uns keiner? Wir irren nur noch umher, zwei Schatten, von niemandem akzeptiert. Der Hunger überwältigt uns. Wir versuchen alles, um an Nahrung zu kommen, doch wir haben keine Kraft mehr, weder um zu klauen noch um zu betteln.
Nelio versucht immer wieder zu klauen, ich gucke aus der Ferne zu. Der Verkäufer hat es gesehen und scheucht ihn weg. Ich höre wie er auf das schwarze Gesindel schimpft, dabei sind wir doch auch nur Menschen. Nelio kommt betrübt zurück. Er schlägt vor weiter zu ziehen in die nächste Stadt, doch ich kann nicht mehr. Im Dorf träumte ich von solchen Städten. Ich träumte die Menschen hätten es gut und würden uns aufnehmen. Doch es war nur ein Traum. Die Menschen hier haben nur wenig und geben nichts her. In was für
einer Zeit leben wir, das hungernde Kinder einfach ignoriert werden?
Mein Vater hatte mal gesagt, dass der Tod das ganze Leben dauert und erst dann aufhört, wenn er eintritt. Jetzt verstehe ich diese Worte. Ich erkläre Nelio, dass alles sinnlos sei und wir keine Chance hätten. Nelio starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Unter Tränen meint er, dass ich nicht aufgeben soll, er werde was zu Essen finden und ich solle auf ihn warten. Ich nicke nur. Bevor er davon rennen kann, nehme ich ihn in meine Arme und drücke ihn fest, dann rennt er davon.
Ich setze mich an den Straßenrand und beobachte die Menschen. Ich habe nicht mehr die Kraft aufzustehen, das spüre ich. Es wird kalt und ich weiß nicht warum, denn die Sonne scheint und es weht kein Wind. Grenzenlose Leere erfüllt mich. Ich spüre meinen Körper nur noch als Hülle. Ich denke an Mutter und an Vater, hoffe sie wieder zu sehen. Ich schaue mich um auf der Suche nach Nelio. Ich liebe ihn. Er ist mein kleiner Bruder und ich kann ihn nicht einmal schützen. Quälende Vorwürfe machen sich in mir breit. Es
ist meine Schuld, dass er jetzt noch mehr hungert als im Dorf, aber er ist mir gefolgt. Dagegen konnte ich nichts tun. Ich schaue auf die andere Straßenseite. Dunkelheit umhüllt mich und ich falle ins Leere.
Als Nelio zurückkommt, sieht er seine Schwester am Straßenrand liegen. Er rennt zu ihr und bemerkt nach kurzer Zeit, dass sie Tod ist. Gestorben an Hunger. Niemand hat sie bemerkt oder sich um sie gekümmert. Sie ist nur ein kleines schwarzes Mädchen. Eines von vielen, dass an Hunger stirbt, nicht nur in dieser hoffnungslosen Stadt. Nelio setzt sich neben sie. Sein Gesicht ist heiß und nass, von Tränen, die sich auf der trockenen Haut ihren Weg suchen. Er betet zu Gott, denn jetzt versteht er die Worte seiner
Schwester, die aus Afrika geflohen ist.
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