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Der Himmel über Afrika

©  Daniel Mylow


An manchen Tagen sieht der Himmel über Afrika aus wie ein wasserloses Meer ohne Ufer. Ich habe noch nie zuvor einen Himmel gesehen, der etwas Geheimnisvolleres und Unsterblicheres verhieß. Als ich das erste Mal nach Afrika kam, wollte ich nie wieder fort.
Der Anruf erreicht mich in Tansania. Marie erzählt mir mit tonloser Stimme, dass ihr Mann gestern bei einem Autounfall tödlich verunglückt sei. Ich solle Cecilia nichts sagen. Es wäre besser, wenn ich mir nichts anmerken lassen würde und wie geplant in die Serengeti fahren würde, sagte sie. Ich versprach es ihr. Und ich versprach ihr, Cecilia nach Hause zu bringen.
Die Propeller der kleinen Maschine heulen auf. Die Startbahn wird kürzer und kürzer und das Flugzeug gleitet in den Himmel über Afrika. Die Tragflächen tauchen in ein azurfarbenes Blau. Am Horizont stehen Wolkenkämme, über denen sich mächtige Schauerwolken türmen. Cecilia beugt sich über mich. Unter uns breiten sich die endlosen Weiten der Serengeti aus. Die beginnende Regenzeit hat das Land in ein trunkenes Grün getaucht. Zwischen den schillernden Sonnenreflexen bewegen sich punktförmige Schatten. "Das sind Tiere", erklärte ich. "Sie sammeln sich für den langen Weg in die Massaisteppe. Pass auf, gleich sind wir ihnen ganz nah..."
Das Flugzeug verliert an Höhe und braust in zehn, zwanzig Metern Höhe über gewaltige Herden hinweg. Erst in starrem Geradeausflug, dann in ein paar leichte Kurven nach rechts oder links über Zebraherden, Antilopenherden, Gazellen, Giraffen und Gnus hinweg.
Viele lassen sich vom Lärm der Propeller gar nicht stören, andere ergreifen die Flucht, von roten Staubwolken begleitet. Cecilia klatscht in die Hände. Sie sah mich aus ihren großen blauen Augen an. Ihre Haare streifen mein Gesicht.
"Wenn mein Vater das sehen könnte", sagt sie.
Auf einer lehmfarbenen Piste landen wir. Ein Ranger holt uns ab. Der Geländewagen ist bereits voll bepackt. Wir fahren auf ein Hochplateau. Rund um einen mächtigen Lavafelsen stehen luxuriös ausgestattete Zelte. Die Sonne versinkt über der Savanne. Der Wind frischt auf. Grillen erfüllen die Luft mit ihrem Zirpen. Stimmen tönen die Dämmerung, fremde Tierstimmen, die das letzte Rot des Tages verabschieden.
Cecilia sitzt auf einem Felsen. Ihr Gesicht verschwindet in der Dämmerung. Sie sieht mich an. Ich habe nicht den Mut, es ihr zu sagen. Ich darf es ihr noch nicht sagen. Ihr Vater war jedes Jahr in Afrika und zum ersten Mal sieht sie mit eigenen Augen, wovon er ihr so oft erzählt hat. Ihr Lächeln ist so unbeschwert. Ich setze mich neben sie. Cecilia legt ihren Blick auf mich, weich und fordernd.
"Du kennst meine Eltern schon lange, nicht wahr"?
Ich zucke zusammen.
"Ja, vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Jahre. So genau weiß ich es nicht."
Cecilia nickt. Es wird rasch kühler. Wir sammeln uns um das flackernde Lagerfeuer des Zeltcamps. Der Widerschein des Feuers streicht über Cecilias Gesicht. Die anderen schweigen. Man ruft uns zum Abendessen ins Restaurantzelt. Der Wein färbt Cecilias Wangen. Das ohrenbetäubende Zirpen der Grillen dringt durch die Zeltwände. Auf dem Weg zu unseren Zelten bleiben wir am Rand des Plateaus stehen. Die Sterne erscheinen zum Greifen nah. Sternschnuppen fallen über den nachtschwarzen Himmel. Cecilia zieht mich an sich. Ich spüre ihre kühlen Lippen auf meinem Hals, über meinem Gesicht. Sie schmiegt sich an mich.
"Cecilia, nicht."
Sanft aber bestimmt entziehe ich mich ihr. Sie lächelt, als wäre sie sich gewiss, dass ihre Niederlage nicht von Dauer ist.
Die Nächte in Afrika sind voller Laute. Schon als ich ein Kind war, träumte ich von diesen Lauten, träumte ich von Afrika. Wenn ich Afrika malen sollte, fallen mir nur lauter Dinge ein, an denen die Farbe versagt. Die Nachtschatten Afrikas füllen meine Erinnerung, aber es fehlt der Ort, an dem ich bleiben könnte. Ich finde keinen Schlaf. Es blieb mir keine andere Wahl, als Cecilia mitzunehmen. Ich war ihrem Vater einiges schuldig und als mich Maries Anruf erreichte, saß Cecilia schon zwei Tage in ihrem Hotelzimmer und wartete auf ihren Vater. Marie wagte nicht, es ihr zu sagen. Was geschehen war, ließ mein Herz wie unter einem dunklen Aschewirbel zurück. Afrikas dunkles Herz schlug in mir wie das Hallen aus einem schwarzen Brunnen. Ahnte Cecilia etwas?
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Wir brechen früh auf. Durch die Serengeti geht es zum Ngorongoro-Krater. Eine riesige Herde Gnus zieht über das Grasland, der Horizont ist schwarz von Tieren, eine Million, so schätzt der Ranger. Sie ziehen nach Norden, in Richtung Kenia, begleitet von unzähligen Antilopen, Wasserbüffeln und Straußen. Cecilias Blick ist der Welt entrückt. Den Kopf an das Fenster des Jeeps gelehnt, träumt sie mit offenen Augen den Herden hinterher. In der Ferne streichen Schakale, Hyänen und manchmal auch Löwen durch das Buschland. An den Hängen des Ngorongoro-Kraters stehen Massaikrieger. Ihre roten Stoffe glänzen in der staubroten, flirrenden Luft. Cecilia lehnt den Kopf an meine Schulter. Sie träumte von Afrika, seitdem sie ein Kind war. Wenn die Zeit ihre Flügel hebt, denkt sie an Afrika. Wenn der Wind über ihr zusammenschlägt und wenn sich der Himmel im plötzlichen Sonnenlicht teilt, dann denkt sie an Afrika wie etwas, das einen findet, wie etwas das dich neu erfindet mit jedem Gedanken daran. Als sie mir das erzählte, weinte sie.
Die Fahrt aufwärts führt über Serpentinen. Mit jedem Höhenmeter färbt sich das Gras dunkler. Die Luft wird in der tropischen Vegetation immer schwerer. Die Erde leuchtet tiefrot. Ich habe ein Gefühl, wie ich es nur hier in Afrika habe. Es gleicht einem Traum. Der Regenwald drängt bis an die Piste. Über uns türmen sich schwarze Gewitterwolken. Wolkenfetzen ziehen über den Kraterrand hinweg. Wir erreichen den Gipfel des Kraters. Die Landschaft verschwimmt in glasigem Dunst. Ein rötlicher Schimmer spiegelt sich auf den Wolkentürmen. Die Wolken werfen schnelle Schatten. In der Ferne gegen heftige Regenschauer nieder, Silberfäden spannen sich über den Horizont. Die Luft ist erfüllt von einem stillen Rauschen. Alles scheint möglich und alles ist so fern zugleich, dass die Möglichkeiten in der Unendlichkeit verblassen.
Am Kraterrand stehen rote Lehmhütten. Wir bleiben für eine Nacht in der Ngorongoro-Lodge.
Es ist Abend. Cecilia und ich sitzen am Kraterrand. Sie sagt mir, dass sie glücklich sei. Und dass sie nach Afrika zurück möchte, wenn sie ihr Abitur hat. "Ist ja schon nächstes Jahr", lächelt sie.
Auf der rötlichen Erde schimmert das Licht wie brüchiges Glas. Plötzlich schlingt Cecilia ihre Arme um mich. Ich spüre ihre Lippen auf meinem Mund, spüre ihre Hand, die sanft an meinem Hemd zupft und plötzlich über meine nackte Haut gleitet. Ich will etwas sagen, mein Arm legt sich über ihren Arm, um sie von mir zu schieben, doch ich ziehe sie nur noch näher an mich. Vorsichtig erwidere ich ihren Kuss. Ich streichle ihre Brüste. Ihr Atem wird schneller. Ohne die Lippen von meinem Mund zu lösen, steht sie auf und zieht mich mit sich, in ihren Pavillon. Nachtschatten fallen über den Krater. Ein schimmerndes Zwielicht tönt den Raum. Cecilia zieht sich aus. Nackt legt sie sich auf das Bett. Ihre Lippen sind leicht geöffnet. Ihr schöner Körper zittert.
Ich gehe auf sie zu. Sanft hülle ich ihren Körper in ein Laken. Ich nehme sie in meine Arme und trage sie an den Kraterrand. Cecilias Kopf liegt in meinem Schoß. Meine Hände halten sie.
"Cecilia", sage ich und möchte doch kein Wort mehr sagen, als ich in ihre großen blauen Augen blicke. "Cecilia, ich muss dir etwas sagen. Es ist etwas geschehen. Etwas schreckliches.?"
Meine Stimme zerrinnt zu einem dünnen Faden.
"Dein Vater...Er ist verunglückt, auf dem Weg zum Flughafen. Er...er ist tot. Ich habe es vor drei Tagen im Hotel erfahren. Deine Mutter wollte, dass du das alles hier siehst. Dein Vater hätte es auch so gewollt, sagt sie. Sie hat mich gebeten, dass ich mich um dich kümmer. Und dass ich dich nach Hause bringe."
Schweigend schloss ich sie in meine Arme. Ich spürte ihr leises Weinen. Unter dem Kraterrand lag die Nacht wie ein schwarzer Brunnen. Die Sterne schwammen wie Wasserzeichen in einer ungreifbaren Stille. Cecilia sagte nichts. Wenn sie in ihrem Laken fror, dann spürte sie es nicht. Sie weinte, und manchmal spürte ich, wie sich ihre Finger in meine Schultern gruben.
" Ich will in Afrika bleiben", flüsterte sie mir zu. "Lass mich bitte hier bleiben."
Ihr Körper erschien mir ganz schwerelos in diesem Augenblick. Der Mond teilte den Nachthimmel in fahle Streifen. Afrika erschien mir in diesem Augenblick wie eine Schrift, die ich begehen konnte. Wenn der Regen nachts an das Fenster klopfte und die Regenstriche wie eine Landkarte meiner wiederholten Reisen auf dem Glas erschienen, dann träumte ich von Afrika. Ich fühle mich aufgehoben in diesen Träumen, so wie Cecilia sich in ihren geborgen fühlt. Der Wind furcht Wellen in das Gras. Wenn man über den Kraterrand sieht, scheint es auf einmal, als sähe man auf die stille Fläche eines mondüberglänzten Sees. Ich halte Cecilia in meinen Armen. In leisen Wellen fährt das Schluchzen durch ihren Körper. Sie legt den Kopf in den Nacken. Ihr Gesicht verschwindet für einen Augenblick in den Nachtschatten.
Ich möchte diesen Augenblick anhalten. Ich möchte irgendetwas sagen, das sie tröstet. Aber dann würde Cecilia spüren, dass der Raum zwischen den Sternen und der Dunkelheit in uns unbewohnbar ist. Wenn ich in ihre Augen sehe, halte ich es für möglich, dass sie es längst weiß. Aber Afrika ist wie ein Mensch, dessen Sprache man nicht versteht. Man hört es, man sieht es, aber man weiß nicht, was es sagt. Darum hören wir niemals auf, unterwegs zu sein, wenn wir an Afrika denken.



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