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Tausend und eine Nacht gehen nie mehr zu Ende
© Heinz-Georg Barth
Yasemina saß in einem Arabien-Café an der Uferpromenade von Agadir in Marokko, eine lebendige Urlauber-Hochburg am atlantischen Ozean. Die dreißigjährige Yasemina Amadila sah traumhaft aus in der westlich-angehauchten Kleidung mit ihrer europäisch modernen Selbstsicherheit. Doch jeder, der sie anschaute sah auch diesen märchenhaften, geheimnisvollen Glanz in ihren schwarzbraunen Augen. Diese Augen mit den seidigen Wimpern blickten früher einmal aus einem Schleier heraus, den blauschwarzen Tschador, den sie
längst abgelegt und nur selten getragen hatte.
Yasemina erkannte gleich, dass der athletische junge Mann, der so forsch an ihren Rattantisch schritt, ein Deutscher war. Sie bedeckte mit ihrer rechten Hand die untere Gesichtshälfte und führte ihre ganze Kraft in die Augen, so wie es demütige Frauen tun, die nichts als ihre dunklen Augen haben, um zu sprechen. So wurde sie im gleichen Atemzug zu einer unterwürfigen Berberfrau, die in all ihrer Tugend eine himmlische Botschaft versandte, deren Folgen sie kaum erahnen konnte.
In der Seele von Yasemina Amadila spielten zwei unterschiedliche Traditionen miteinander. Die Herkunft ihrer gebieterisch gläubigen Mutter, die der Tochter in der stickigen Enge der marokkanischen Basare die wenigen Waffen einer Frau in die Hand gegeben hatte. Und die ihres Vaters, der oft seiner hübschen Tochter Yasemina versprochen hatte, sie in seine Heimatstadt Hannover zu holen, wo sie besser leben könnte als in dem nordafrikanischen Lande ihrer Mutter. Und so beherrschte Yasemina alle Trümpfe des Verführungsspiels
die unergründliche Kunst einer gefügigen Marokkofrau und das moderne Lockspiel der Westeuropäerin, die ohne jedes Rätsel auskommt.
Sie wusste genau, dass deutsche Touristen am Liebsten das legendäre Märchen aus tausend und eine Nacht erleben wollten und dafür fast alles taten. Und deswegen lockte sie die Männer immer wieder mit ihren glutvollen Augen.
Auch er blieb vor ihr stehen, dieser deutsche Tourist. Obwohl noch drei Tische frei waren, war auch er in ihre Fänge gegangen als er mit der rechten Hand auf einen Rattanstuhl neben ihr zeigte.
"Ja, bitte hier ist noch frei", sagte Yasemina und gab sich dabei ein wenig unschuldig.
"Sie sprechen Deutsch?" fragte er und ließ sich neugierig neben ihr nieder. Er nahm seine Digitalkamera ab und legte sie vorsichtig neben sich auf den Tisch.
Yasemina beobachtete, wie er den schmalen Ledergurt, den er bisher um den Hals getragen hatte, um seine linke Hand legte. Es schien eine kostbare Digitalkamera zu sein. Touristen haben meist solche teuren Gerätschaften bei sich, wusste Yasemina aus ihrer Erfahrung.
Dann senkte Yasemina geübt ihren schwarzhaarigen Lockenkopf und sagte: "Ja, mein Vater ist Deutscher und ich habe sofort gesehen, dass Sie auch Deutscher sind." Sie versuchte ein sehr sanftes Lächeln. "Es gibt viele deutsche Touristen hier in Agadir. Brauchen Sie einen Fremdenführer? Ich kann Ihnen gerne einen besorgen. Falls Sie in die Sahara fahren, auf einem Dromedar dem Sonnenaufgang entgegen reiten? Die fruchtbaren Oasen oder das malerische Marrakesch erleben möchten? Vermutlich wollen Sie
die aufregende Stadt Casablanca kennen lernen?" Er schüttelte den Kopf und winkte ab. "Nein, nein danke. Nichts davon, ich bin kein Marokkotourist, sondern Bildjournalist. Ich fotografiere die Meerstadt Agadir für einen Bildband. Als nächstes wollte ich zur Kasbah hoch. Ja, könnten Sie mich begleiten?" Yasemina legte ihre unterwürfige Haltung ab, beobachtete ihn interessiert, schwieg aber vorerst.
"Möchten Sie mit mir kommen?"
"Vielleicht, mal sehen", antwortete Yasemina vage, was zu ihrem Plan gehörte. Und erst als er für sie ein Glas mit frischgepresstem Orangensaft bestellte, sagte sie: "Ja, die Kasbah kenne ich gut, wenn Sie wollen, führe ich Sie hin, ein herrlicher Aussichtspunkt über die gesamte Atlantikstadt.
Aber vorerst muss ich dringend telefonieren. Es ist gleich hier", sie zeigte nach rechts, "nur zwei Eingänge weiter. Sie können gerne mitkommen und sich derweil das orientalische Bauwerk angucken. Es ist äußerst sehenswert für Deutsche, ein atemberaubender Baustil."
"Wirklich?" fragte er dann, "das freut mich sehr, wenn ich eine charmante Begleiterin für meine Fotoaufnahmen habe." Er zahlte blitzschnell die Getränke, nahm seine edle Kamera und ging mit Yasemina zusammen einige Schritte. Dann standen sie vor dem landestypischen Haus, verziert mit kunstvollen Mosaiksteinen.
Ein Boy in arabischem Umhang und roten Fez wartete vor dem Orienttor. Eifrig öffnete er die Schnörkeltür, lächelte verwegen und verneigte sich tief.
"Einen Moment", ich gehe vor", sagte sie und spürte den Blick des Journalisten auf ihrem wohlgeformten Körper. Sie wusste genau, dass kein einziger Mann diesem brillanten Hüftschwung widerstehen konnte. "Kommen Sie doch mit", rief sie ihm zu, und er betrat das faszinierende maurische Haus.
"Schauen Sie sich überall um, ich telefoniere inzwischen. Ich finde Sie schon....".
Er hieß Emmanuel Holl und war nicht nur von dem märchenhaften Gebäude, in welches sie ihn geführt hatte, begeistert. Schnell war Yasemina wieder bei Emmanuel zurück, und fasste ihn sanft am Arm. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen nun ein besonders kostbares Zimmer!" Er hatte seinen Arm um sie gelegt, sie gingen engumschlungen, als kannten sie sich schon ewig.
"Darf ich Sie nach dem Besuch auf der Kasbah zum Essen in mein Hotel einladen? Als kleiner Dank für Ihre nette Begleitung?"
Sie nickte. "Vielleicht", und schon jubelte sie: "und hier ist dieses prächtige Zimmer!"
Emmanuel staunte mit offenem Mund. In der Mitte des Raumes stand ein Himmelbett - und er fühlte sich in ein Märchen aus Kindeszeiten eingetaucht.
"Sie können hier gerne Quartier nehmen", sagte Yasemina, "sie vermieten diese fürstliche Märchensuite." Sie war noch näher an ihn herangerückt.
Emmanuel Holl nickte flüchtig: "Danke, aber ich habe ein schönes Hotelzimmer."
Als sie ihn ungläubig ansah setzte er hinzu: "Aber ich freue mich sehr, in Agadir ausgiebig fotografieren zu können und darauf, dass Sie mir dabei helfen. Das ist ein fabelhaftes Haus, ich nehme ein paar Motive auf und dann lassen Sie uns zur Kasbah fahren."
Yasemina öffnete das sagenhaft schimmernde Fenster und ließ frische Luft in die Traumsuite. "Später", hauchte sie und ließ sich auf das frisch bezogene Himmelbett fallen. Aus dieser Lage sah sie Emmanuel wortlos an. Er brauchte lange, ehe er diesmal die geheimnisvolle Sprache ihrer Augen verstand.
"Wer bist du?" fragte er beinahe peinlich berührt, "und was willst du von mir?" Er legte seine Kamera auf den Tisch und gab sich einen Ruck. "Und warum - ich meine, warum mit mir?"
Sie lächelte verwegen, während sie ihn mit ihren schwarzbraunen Augen abermals verführte.
"Damit du es gleich weißt, ich habe noch nie dafür bezahlt und werde es auch heute nicht tun."
Yasemina ließ sich wieder nach hinten sinken und fragte ihn in einer beinahe erschütterten Tonart: "Wie kommst du darauf, dass ich eine Dirne sein könnte?"
Er schluckte vernehmbar, schwieg aber. Sein Misstrauen schien ihm leid zu tun. Zur Entschuldigung sagte er: "Dieses Tempo ist ja sogar für eine Westeuropäerin zu flott."
Yasemina lachte. "Ich bin, wie ich bin! Und wenn ich mich verliebt habe, will ich nicht warten! Worauf sollte ich eigentlich warten?"
Er starrte ungläubig auf die bildschöne marokkanische Frau im Himmelbett.
"Was ist?" rief sie ihn an, "du bist bald zurück in Deutschland und dann habe ich umsonst gewartet, hm?" Emmanuel begriff, dass das kein Traum sein konnte und nickte.
Er griff in seine Gesäßtasche, entnahm seine Brieftasche und legte sie neben die Kamera. Yasemina erkannte, dass sie prall gefüllt war mit Geldscheinen.
Doch sie streckte die Hände nach ihm aus und flüsterte: "Komm her zu mir!" Nun ließ er sich nicht mehr lange bitten, zog seine Jeanshose aus und sank erwartend an ihre Seite. Leicht zögernd küsste er sie und Yasemina spürte noch immer die Fragen, die er nicht wagte auszusprechen, auf seinen Lippen.
Aber seine Sicherheit wuchs, als er spürte, wie Yasemina seine Zärtlichkeiten genoss. Seine Zweifel waren völlig verschwunden, als ihn Yasemina in ein Märchen von tausend und eine Nacht entführte.
Später fragte er wie verzaubert: "Wo ist hier das Badezimmer?"
"Den Gang entlang und die zweite Tür rechts", flüsterte sie.
Er küsste sie noch einmal leidenschaftlich, ehe er sich langsam von ihr löste. "Ich bin gleich wieder da."
Yasemina war schnell aufgestanden, kaum dass er die Tür des Himmelbettzimmers hinter sich zugezogen hatte. Eilig warf sie das geblümte lange Sommerkleid über sich und schlüpfte in die bequemen Ledersandaletten.
Sekundenlang starrte sie auf seine prall gepolsterte Brieftasche, zauderte einen Moment unschlüssig und sagte dann laut: "Nein. Nie wieder!"
Dann hastete sie aus dem Zimmer heraus, die Treppen hinunter und in den nebenliegenden Souk hinein. Ein glatt frisierter Araber, der meterlange Stangen mit Lederjacken hütete, sprang hoch als Yasemina Amadila seinen Verkaufsstand betrat. "Na, du warst lange weg, hat es sich wenigstens gelohnt? Fette Beute? Los, nun zeig' schon her!"
Yasemina drückte sich verängstigt an ein Lederhosenregal, als erwartete sie eine Tracht Prügel. Zaghaft sagte sie: "Tut mir leid, keinen einzigen Cent hatte dieser Mann bei sich."
Und sie hatte sich nicht umsonst gefürchtet. Wütend schlug Ali Ahmed der schönen Frau in das bleich gewordene Gesicht. "Du bist echt zu blöde für das Geschäft", brüllte er sie an und fletschte mit seinen auseinander stehenden Zähnen.
Sie kroch noch enger an das Regal und flüsterte eingeschüchtert: "Aber er hat mich auf eine Idee gebracht...".
Ali Ahmed fragte wutschnaubend: "Was für eine Idee?"
"Das Haus mit dem Himmelbett! Deutsche können wir in das Himmelbettzimmer locken und behaupten, dort hätte unser König Mohammed drin geschlafen. Du hast doch gesehen, dieser Mann ist auch sofort mit mir mitgegangen. Die deutschen Touristen sind sentimental, die machen das liebend gerne mit. Und der nächste, den ich abschleppe, hat sicher wieder viel Geld dabei und teure Elektrogeräte, ganz bestimmt!" Ali Ahmed war endlich zufrieden. "So, nun dampfe ab, setz dich wieder ins Café. Dort drüben
sind eben drei Touristenreisebusse angekommen. Aber diesmal schleppst du mir was ran, okay?"
Sie nickte gehorsam und machte sich auf schnellen Füßen davon. Sie musste Emmanuel unbedingt noch im Märchenhaus mit dem orientalischen Himmelbett antreffen. Sie wollten zusammen auf die gigantische Kasbah, die hoch über dem Atlantik liegt, fahren. Fotoaufnahmen für seinen neuen Bildband machen.
Unterwegs würde sie ihm vorsichtig alles erklären. Sie wurde seit langem wie eine Gefangene gehalten und musste die Touristen ausplündern. Sie konnte sich alleine nicht befreien, wurde auf Schritt und Tritt überwacht und bei Ausreißversuchen halb tot geprügelt. Emmanuel musste ihr da raus helfen. Ob er sie verstehen könnte, wenn sie ihm das alles behutsam beichten würde? Und ob er sie dann mitnehmen würde? Dorthin, wo ihr leiblicher Vater längst begraben lag? Nach Hannover in Deutschland. Ob sie es schafft,
diesmal den rohen Zwängen der drei Nordafrikaner zu entrinnen? Sie muss es probieren mit seiner Hilfe.
Emmanuel hatte sie doch völlig anders angesehen, als man eine Prostituierte ansah. Das hatte sie genau gespürt. Es war ihr zuvor noch nie passiert, dass sie sich in einen Mann verliebt hatte, der eigentlich gleich ihr Opfer werden sollte. Und so etwas würde ihr nie wieder passieren. Nicht in tausend und einer Nacht ... Und wenn, dann allein mit Emmanuel. Sie war sehr verliebt in ihn, auf den ersten Blick, den sie in seine meerblauen Augen wagte.
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