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Nuri
© Torsten Houben
Die Hände des alten Schreibers waren schon lange nicht mehr für die Arbeit mit Binsen, Papyrus und Farbpalette geeignet. Immer häufiger entglitt das Schreibgerät den dünnen Fingern. Teti war schon als Kind an den Hof des Pharaos gekommen. Damals war Pepi II. sechs Jahre alt gewesen und dessen Onkel verwaltete das Land am Nildelta für ihn. Als Schreiber war Teti immer an Pepis Seite. Er zeichnete die großen Taten des Pharaos auf und bewahrte sie für die Nachwelt. Über neunzig Jahre lang hatte er ihm gedient. Keiner
der beiden Männer hätte je daran gedacht, das hohe Alter von über hundert Jahren zu erreichen. Aber es war geschehen. Die Jahrzehnte vergingen, ohne dass Anubis, Gott der Toten, daran gedacht hätte, einen von ihnen in sein Reich zu holen. Doch nun streckte der Schakalgott seine Hand nach Pepi aus, denn der Pharao lag im Sterben. Teti sah aus dem Fenster. Der große Platz rund um den Palast war mit Menschen gefüllt. Alle kamen, um dem Herrscher die letzte Ehre zu erweisen. Die Sonne stand hoch im Zenit. Die bronzenen
Statuen der Pharaonen und Götter glitzerten im Licht. Der alte Schreiber stand schwerfällig auf, als eine der Palastwachen in seine Kammer trat.
"Der Pharao wünscht dich zu sehen."
Der greise Herrscher lag mit geschlossenen Augen da. Seine knochige Hand streichelte sanft über das weiche Fell der Mau, die neben ihm auf dem Bett lag.
"Nuri, Licht meines Lebens. Wirst du mich begleiten auf der letzten Reise?"
Die junge Katze schnurrte, ohne zu wissen, dass dies ihr Todesurteil bedeutete. Das wohlige, zufriedene Geräusch deutete der Sterbende als Zustimmung. Schon lange hatte der Alte angewiesen, seine Pyramide mit allem, was er für den Übergang in das Reich der Toten benötigte, zu füllen. Die Grabkammer war hergerichtet. Nun musste Pepi noch diejenigen auswählen, die mit ihm auf die Reise ohne Wiederkehr gehen sollten. Kein ägyptischer Herrscher ging völlig allein aus dieser Welt.
"Nuri, ich danke dir, dass du mich nicht allein lassen willst. Du bist so jung und dennoch kennst du deine Pflicht ganz genau. Ich danke dir für deine Treue."
Teti ahnte bereits, was sein Herr von ihm verlangen würde, als er dessen Gemach betrat.
Er verbeugte sich vor dem Herrscher über Ober- und Unterägypten so tief, wie es sein alter, morscher Rücken zuließ. Pepi hatte ihn tatsächlich rufen lassen, um ihm von der ihm zuteil werdenden Ehre zu berichten. Zusammen mit dem Pharao, dem Göttlichen, die Barke des Anubis zu betreten, wäre das höchste Glück für ihn, sprach der Schreiber den Herrscher an - und er meinte es ernst. So sei es, erwiderte Pepi und schloss seine Augen für immer.
Die Mau sprang vom Lager des Toten, lief zu Teti herüber und rieb ihren Kopf an dessen Bein. Sie maunzte leise, wie um dem Schreiber mitzuteilen, dass sie beide nun ein gemeinsames Schicksal verbinden würde.
Der Leichnam Pepis wurde in die Tempelanlage gebracht. Die Priester begannen mit der 70 Tage dauernden Zeremonie der Einbalsamierung. Die Eingeweide des Pharaos wurden in vier hohe Tongefäße, die Kanopen, gelegt. Sein Körper mit Ölen und Salben gereinigt und gesalbt. Dann umwickelte man ihn mit Binden aus Leinen.
70 Tage Zeremonie bedeuteten 70 Tage Frist für Teti und Nuri. Die Katze lebte nun in der Stube des Schreibers. Stunden konnte sie reglos auf dessen Schoß liegen und sich an ihn drücken. Ahnte sie den bevorstehenden Tod? Teti war alt, viel älter als die meisten seiner Mitmenschen. Zudem war es eine Ehre, dem Pharao im Leben nach dem Tode auch weiterhin dienen zu dürfen. Teti war bereit. Doch Nuri war noch vor wenigen Wochen ein Katzenbaby gewesen. Pepi bekam sie von einigen Bauern als Geschenk. Sollte ein so junges
Tier lebendig eingemauert werden? Konnte Teti das zulassen? Er sah in die blauen Augen der Katze und entdeckte Angst und Hilflosigkeit darin.
Am Tag des Begräbnisses wurde Teti in das erbarmungslose Dunkel der Pyramide geführt. Nur weinige kannten die Wege durch die gewundenen Gänge, hin zu der großen Grabkammer. Der Greis spürte keine Furcht. Vierundneunzig Jahre lang war er immer an der Seite des Pharaos geblieben und hatte ihm treu gedient. Nun würden sie auch zusammen den letzten Gang antreten. Am Eingang zum Labyrinth drehte der Schreiber sich noch einmal um und verabschiedete sich in Gedanken von der sengenden Sonne, deren Strahlen auf dem schwarzen
Wasser des Nils flimmerten. Nie wieder sollte Teti das Nildelta wiedersehen, das mit seinem fruchtbaren Schlamm den Ägyptern das Leben in der sonst kargen afrikanischen Landschaft ermöglichte und ihnen zu ihrem Reichtum verholfen hatte. In seinem Arm hielt Teti die zitternde Nuri. Die Augen der Katze glühten im Schein der brennenden Fackeln. Der Schreiber hielt das Tier so fest an sich gedrückt, dass er leichte Bewegungen im Bauch des Tieres spürte. Nuri wäre bald Mutter geworden, wenn nicht die Dunkelheit der
Pyramide sie schon in wenigen Augenblicken für immer verschlingen würde. "Nuri, ‚Licht meines Lebens' bedeutet dein Name und eben dieses Licht hat der Pharao zum Erlöschen verurteilt.", flüsterte der Alte dem zitternden Tier ins Ohr. "Er konnte nicht ahnen, dass du bald neues Leben in dir tragen würdest. Ich bin alt und sicherlich hätten die Götter mich bald zu sich gerufen, aber du, Nuri, du bist jung und hast noch eine Aufgabe zu erfüllen."
Die Katze sah Teti direkt in die Augen und maunzte leise, wie zur Bestätigung. Immer weiter schlängelte sich der geheime Gang durch die Pyramide und je weiter sie gingen, desto mehr schwand die Hoffnung auf Rettung. Teti, dessen Körper zwar schwach, aber dessen Geist noch sehr rege war, grübelte. Würde er ein Risiko eingehen, wenn er der trächtigen Katze zur Flucht verhalf? Was könnte passieren? Die Priester und Wachen könnten ihn für diesen Frevel töten! Aber sterben würde er ohnehin in der Grabkammer - früher
oder später. Wenn Nuri in der Stadt bleiben würde, wäre sie sicher schnell wieder eingefangen. Pepis Katze war noch dazu ein außergewöhnlich schönes Tier. Ihr silbergraues Fell fiel auf und wurde überall erkannt. Sie brauchte, dachte Teti, eine Zuflucht, einen Ort an dem niemand ihr Böses tun konnte. Während seine Gedanken so kreisten, bemerkte der Alte nicht, dass eine der Priesterinnen an ihn herangetreten war. Sie hatte die Kapuze ihres Gewandes tief ins Gesicht gezogen. "Nuri steht unter meinem Schutz.",
sagte sie. Dann beugte die Frau sich zu der Katze und begann mit ihr zu reden. Es waren keine menschlichen Worte, sondern Laute, wie nur die Mau sie von sich geben konnten. Teti wagte es nicht, die Priesterin um Erklärung zu bitten. Die Geweihte hob segnend die linke Hand und zog mit der Rechten die Kapuze zurück, um dem Schreiber ihr Gesicht zu zeigen. Diesem stockte der Atem. Es waren keine menschlichen Züge, in die er da blickte. Auf dem schön geformten Frauenkörper thronte der Kopf einer Katze!
"Was bei Isis und Osiris...", wunderte sich Teti, doch schon während er es aussprach, änderte sich das Aussehen der Priesterin und es war nichts Ungewöhnliches mehr zu erkennen. Eine junge Frau mit einem lächelnden, wissenden Gesicht - nichts weiter. Nuri spreizte ihre Krallen und wehrte sich gegen die Umklammerung des Mannes. Teti zuckte zusammen, als er gekratzt wurde und ließ Nuri einfach fallen. Diese landete nach Katzenart auf ihren Pfoten und lief davon in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
"Bastet! Große Katzengöttin, Göttin der Freude, sicher schützt du dieses Tier und das werdende Leben in ihr. Nun kann ich getrost meinem Schicksal entgegentreten. Anubis erwartet mich." Keiner das Anwesenden bemerkte die Flucht der Katze. Auch dies war sicherlich ein Zauber der Bastet. Teti betrat Pepis Grabkammer und beendete dort in Frieden sein Leben. Als Anubis und Osiris sein Herz auf die Lebenswaage legten, war diese im Gleichgewicht. Das Tor zur ewigen Glückseeligkeit stand Teti offen.
Am Eingang der Pyramide wurde Nuri am Genick gepackt und hochgehoben. Ein Junge hatte das Tier entdeckt.
"Eine Mau!", rief er. Katzen waren in diesem Teil des Landes eher selten. "Du kommst mit und ich behalte dich." Das Kind zog Nuri am Schwanz und zwickte ihr in die Pfoten, wie um zu sehen, ob sie auch wirklich lebendig war.
"Autsch!" Eine starke Hand zog den Jungen am Ohr.
"Wirst du wohl die Katze loslassen? Weißt du denn nicht, dass es die Göttin Bastet selbst sein könnte, die du da quälst?"
Das Kind sah auf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Er stützte sich auf einen Stab und trug die prunkvollen Gewänder eines Hohepriesters.
"Gib sie mir!", befahl er dem Jungen und streckte seine Arme nach Nuri aus. Widerwillig legte das Kind die Mau hinein und lief fort. Der Priester streichelte das getigerte Fell und sprach:
"Bei mir bist du sicher. Wegen dir bin ich hergekommen. Nun kehren wir gemeinsam in meine Heimat zurück. Bubastis liegt östlich von hier. Du wirst dort viele deiner Art sehen. Bastet selbst hält ihre schützende Hand über die Stadt. Ich bin ihr Hohepriester. Sei unbesorgt. Dir und deinem Nachwuchs wird nichts geschehen. Ich werde dich der Göttin weihen und du wirst zu den heiligen Mau von Bubastis gehören. Nuri - Licht des Lebens. Du sollst leben!"
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