Kurzgeschichte Afrika Kurzgeschichtenwettbewerb Afrika Kurzgeschichten
Berührt
© Kurt-G. Krell
Ich fahre jeden Tag an ihr vorüber. Seit Jahren steht sie an derselben Stelle, doch meist nehme ich sie nur aus den Augenwinkeln wahr, beachte sie nicht sonderlich. Obwohl: Man hat sie eigentlich dort hingestellt, um Aufmerksamkeit zu erregen, Beachtung zu finden. Das ist ihr Zweck, der Sinn ihres Da-Seins.
Auch wenn ich anderswo auf der Welt viel größere Schwestern von ihr kennen gelernt habe, so ist sie keineswegs klein. Meine Nichtachtung beruht wohl eher auf einer Art Gewöhnungseffekt. Was man jeden Tag am selben Ort zur selben Zeit antrifft, das nimmt man nur noch dann wahr, wenn es entweder nicht mehr da oder ganz außergewöhnlich anders ist. -
Wenn man sie jedoch nur bei diesen seltenen Anlässen beachtete, dann hätte sie ihren Zweck verfehlt! - Es kostet nämlich Geld, .....viel Geld, sie nutzen zu dürfen. Dafür ist es ihr dann aber auch egal, für was oder wen sie arbeitet und wie sie dabei aussieht. Man könnte meinen, sie sei ein Chamäleon, so wie sie ihr Aussehen verändert. Doch ein Chamäleon hat ein eigenes Ich, ein eigenes Wesen, einen unverwechselbaren Charakter.
Sie jedoch ist charakterlos, manchmal gar schamlos....
Man müsste schon lange graben, sie von den vielen, vielen Schichten dessen, was sie alles hat präsentieren müssen, befreien, diese Schichten herunter reißen, in Fetzen, in Streifen abziehen...... Lage für Lage.... Und jede Schicht davon wäre ein Stückchen ihres Lebens, ein Stückchen dessen, was sie in längst vergangenen Tagen war, wie sie gewesen ist. Doch es wird niemanden mehr interessieren. Es wird sich auch niemand finden, der sie vorsichtig, ganz vorsichtig, Schicht um Schicht von ihrer Vergangenheit befreit,
ihre Vergangenheit nochmals in die Gegenwart holt. Dazu ist sie auch meist zu banal gewesen, ihre Vergangenheit. Zu verlogen, zu beschönigend, zu prahlerisch, blendend - verführerisch, marktschreierisch…….
Und letztlich war sie sowieso nur aus Papier, diese Vergangenheit. Aus bunt bedrucktem, billigen Papier, aufgeklebt mit billigem Tapetenkleister, preisgegeben dem Regen, dem Schnee, dem Sturm, preisgegeben der Vergänglichkeit…….
Das neue Musical, für das sie einst Reklame machte: ein Flop, der schnell wieder in der Versenkung verschwand. Der "neue" Golf, für den sie warb: es gibt schon das dritte Nachfolgermodell dafür, nachdem auch die vierte Rückrufaktion die Probleme nicht endgültig hatte abstellen konnten.
Die Zigarette mit dem "Duft der großen weiten Welt". - Für Zigaretten darf überhaupt keine Werbung mehr gemacht werden! Stattdessen wirbt jetzt die Gesundheitsministerin, die mich mütterlich - ernst - mahnend im Vorüberfahren ansieht und mahnt: "Rauchen schadet Ihnen in der Schwangerschaft!" Nebenbei bemerkt: Ich bin ein Mann, habe mich bereits vervielfältigt und auch nicht mehr die Absicht, die Welt nochmals mit meinen Genen zu beglücken....-
Doch auch sie wird bald überklebt sein……. Vielleicht mit dem umwerfend rahmigen Eiscreme-Konfekt oder dem Schokoriegel, bei dessen Genuss man - ob man nun will oder nicht - am Stamm einer schiefen, karibischen Palme lehnt. Noch grandioser ist dabei der Genuss eines nach Medizin schmeckenden Zuckerwassers, das mich nicht nur an der Palme lehnen, sondern auch gleich noch einen Haufen fröhlicher, junger Menschen um mich sein lässt. Dabei bin ich 55 und froh, wenn ich mal allein sein kann !
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Vor einigen Wochen, ich war fast schon an der Reklametafel vorbei, da sah ich es: aus tiefen Augenhöhlen eines abgemagerten, schwarzen Kinderkopfes trafen mich Blicke: flehend, Hilfe suchend, verzweifelt aber immer noch nicht gänzlich hoffnungslos, nicht gänzlich ohne Glanz.........
Den Text zu diesem Foto, den konnte ich nicht mehr lesen, denn dann war ich auch schon vorbei……..
Aber ich brauchte auch keinen Text.
Wofür oder wogegen er auch immer gewesen wäre: Diese Kinderaugen sagten mehr als jeder Text hätte ausdrücken können.
Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf, dieses Bild und brannte sich förmlich in mein Hirn, rührte an mein Herz, bis es dann auch mein Gewissen erreicht hatte.
Solange die Reklametafel dieses Bild trug, schaute ich es mir im Vorüberfahren an. Musste ich es mir ansehen. Tag für Tag, immer wieder. Ein paar Wochen lang, denn ich fuhr immer wieder denselben Weg. Obwohl ich schon jede Einzelheit darauf kannte: immer wieder musste ich meinen Kopf ihm zuwenden, konnte es nicht ignorieren wie all die anderen Bilder, die ich darauf zuvor hatte sehen können, die "schöneren", die "ästhetischeren", marktschreierischen oder auch banaleren. Kein Bild zuvor hatte
mich derartig fasziniert.
Diese Augen, sie zwangen mich!....... Zwangen mich....... Zwingen mich.....
Sie zwingen mich noch heute, diese Kinderaugen, wenn auch das Plakat schon wieder überklebt worden ist…… womit eigentlich? - Ich muss direkt mal wieder bewusst hinsehen, heute Nachmittag, wenn ich wieder dran vorbei komme. Mal schauen, welche Banalitäten, welche Trivialitäten dort wieder zu sehen sein werden. Doch eines weiß ich:
Darunter steckt etwas, klebt etwas, das mich berührt hat. Und daran werde ich immer wieder denken, wenn ich vorüber fahre.
Das Patenkind meiner Frau ist vier Jahre alt, schwarz, lebt in einem kleinen Dorf in Kenia, heißt Sarah und wird für 50 Cent am Tag endlich richtig satt. Es kann für fünf € im Monat in den Kindergarten und später für acht in die Schule gehen. Genau so wie ihre Zwillingsschwester Esther, deren Pate ich bin.
Es war purer Egoismus von uns, denn es beruhigte unser Gewissen..
Und irgendwie schauen uns die Augen auf dem Plakat jetzt anders an. Auf dem Plakat, das man heute gar nicht mehr sehen kann, weil es schon lange überklebt ist........ Ich weiß es !
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