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Im Schatten der Mauer

©  Diana Otterbach


Unbemerkt lag der Teppich auf der Mauer, um von der Sonne getrocknet zu werden. Noch immer war er an einigen Stellen feucht. Schafswolle trocknet sehr langsam, das wusste Sahih, doch auch im feuchten Zustand war es der prächtigste Teppich, den er je gesehen hatte. "Ein Original-Berber Teppich", hatte der Verkäufer Mohammed erst neulich einem deutschen Touristen erklärt. Seine Ornamentik war so einzigartig, dass man glauben konnte, Allah selbst hätte diesen Teppich geknüpft. Rauten und Kreise spielten ihr Spiel auf diesem Teppich, waren verschlungen, standen sich gegenüber, bekämpften sich und fanden wieder zueinander. Sahih konnte den Blick kaum abwenden. Er musste ein Vermögen wert sein. Die heiße Mittagssonne spiegelte sich in der letzten Feuchtigkeit des Teppichs wider, es war unheimlich still auf den Straßen. Das hektische Treiben, der Lärm der Mofas, das Schreien der Marktleute war verstummt. "Nur dumme Esel arbeiten um die Mittagshitze", hatte der Abu einmal gesagt, und er schien Recht zu behalten. Selbst die Dromedare lagen regungslos im Schatten der Dattelhaine. Sahihs Mund war trocken. Vorsichtig schaute er sich um und bewegte sich dann vorsichtig auf den Hinterhof des Geschäftes zu. Nein, keiner beobachtete ihn, außer einer kleinen Eidechse, die flink in einer Ritze des alten Mauerwerks verschwand, als sich ihr Sahin näherte. Oft genug hatte er es geübt: Er konnte sich so sanft bewegen wie ein Leopard. Keiner würde seine Schritte hören. Die Fußsohlen brannten auf der heißen Erde. Er würde sich nie daran gewöhnen. Jeden Tag empfand er die Hitze als einen Fluch. Doch der Gedanke an den Teppich ließ ihn nicht aufgeben. 6000 Dirham würde der sicher einbringen. Früher, wenn die ganze Familie nachts am Lagerfeuer saß, hatte die Mutter oft von dem kleinen Jungen und dem fliegenden Teppich erzählt. Sahih wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein dummes Märchen, sonst nichts. Trotzdem erwischte er sich bei dem Gedanken, wie der Teppich ihn, wie auf sanften Wellen, ins kühle Atlas-Gebirge leiten würde. Sahih lächelte. Welch Unfug hatte Allah ihm da nur in den Kopf gesetzt? Die Zeit wurde knapp. Bald würde der Muezzin zum Gebet rufen. Dann würden die Häuser und Straßen wieder lebendig werden und Mohammed in sein Geschäft zurückkehren. Bis dahin musste es passiert sein. Sein Plan war perfekt. Er hatte oft genug geübt, auch die großen Teppiche so zusammenzurollen, dass man sie tragen konnte. Im Schatten der Mauer konnte er sich dann unbemerkt bewegen. Er musste nur einmal die Straße überqueren, bis zu seinem Versteck. Ein perfektes Versteck. Keiner würde einen Berberteppich in einem alten Ziegenstall vermuten. Wenn er sich jetzt beeilte, würde er die Straße noch überqueren können, bevor der Muezzin das alte Dorf erwachen ließ. Sahih schlich sich lautlos vorwärts. Mit gekonnten Handbewegungen rollte er den Teppich zu einer riesigen Zigarre zusammen. Alles funktionierte wie geplant. Das Gewicht des Teppichs lastete auf seinen Schultern, aber schließlich war es nicht mehr weit. Er konnte die Straße schon sehen.
"Ibn Mustafa, Sahih, was zum Teufel machst du mit meinem Teppich?" Onkel Mohammed bäumte sich vor dem kleinen Jungen auf, drückte ihn zusammen mit dem Teppich auf den Boden, zerrte ihn unter schrecklichen Wortschwällen wieder nach oben, drückte ihn erneut auf den Boden und ließ ihn dort schließlich nach einer heftigen Ohrfeige, nicht ohne mit dem Fluchen aufzuhören, liegen.
Plötzlich endete der Wortschwall. Der Onkel nahm den Teppich an sich und ließ Sahih wortlos liegen. Der Muezzin hatte gerufen, das Dorf war zum Leben erweckt. Auch Sahih schickte Allah ein Gebet. Ein Gebet, in dem er sich entschuldigte, dass er seinen Teppich, den er, Sahih, selbst geknüpft hatte, gestohlen hat - obwohl es Mohammeds Teppich war.



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