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Papa ist in Afrika

©  Eva Markert


"Wo ist denn Papa?", fragte der kleine Junge. Er hatte ein paar Tage bei der Großmutter verbracht. Aus großen dunklen Augen sah er seine Mutter an.
"In Afrika."
"Und was macht er da?"
"Arbeiten. Er ist auf Geschäftsreise."
"Wann kommt er denn wieder?"
"Sehr lange nicht."
Tom schwieg. Er kannte das schon. Sein Papa war oft auf Reisen, und man wusste nie genau, wann er zurückkommen würde.
"Wo ist eigentlich Afrika?", fragte er, als sie beim Abendessen saßen. Die Mutter legte das Besteck aus der Hand und schob ihren Teller von sich weg.
"Die Erde ist eine große Kugel", erklärte sie. "Und mitten auf dieser Kugel, da liegt Afrika."
"Und wie sieht es da aus?"
"Das weißt du doch. Papa hat dir schon oft davon erzählt."
"Er hat gesagt, dass es in Afrika ziemlich heiß ist. Und dass es da nicht oft regnet, aber wenn, dann ganz lange. Und da sind Urwälder und Wüsten und viele wilde Tiere."
"Na siehst du! Du weißt schon gut Bescheid!"
Tom fiel ein, dass er sogar ein Bilderbuch über Afrika besaß. Besonders der Dschungel und die Tiere hatten es ihm immer angetan. Irgendwo musste das Buch sein. Gleich morgen wollte er es suchen.
Nach dem Essen brachte seine Mutter ihn ins Bett. Sie sprach heute Abend nur sehr wenig mit ihm. Es war richtig still in der Wohnung.
"Warum ruft Papa uns eigentlich nicht an?", fragte Tom.
"Im Urwald gibt es keine Telefone."
"Aber Papa hat doch ein Handy!"
"Im Urwald gibt es auch keinen Strom. Deshalb kann Papa sein Handy nicht aufladen."
Papa rief eigentlich immer an, wenn er auf Reisen war. Aber seine Firma hatte ihn ja auch noch nie nach Afrika geschickt.
Tom lag im Bett und stellte sich vor, wie Papa im Urwald mit einer großen Schlange kämpfte. Sie legte sich um seinen Hals und wand sich um seine Brust, aber er war stark, viel stärker als eine Schlange. Tom hatte keine Angst. Sein Papa würde die Schlange besiegen.
Am nächsten Morgen sagte die Mutter, sie hätte sehr viel zu tun. Sie brachte Tom nicht in den Kindergarten, sondern zu Frau Schubert, die nebenan wohnte. Als er mittags nach Hause kam, erschien ihm die Wohnung anders als sonst. Und bald merkte er auch, woran das lag. Alle Sachen von Papa waren fort: die Pfeifen im Wohnzimmer, die Bücher auf seinem Nachttisch, und als Tom den Kleiderschrank öffnete, sah er, dass auch Papas Hosen und Hemden verschwunden waren.
"Wo sind Papas Sachen?", fragte er.
"Er hat sie mitgenommen."
"Alles?"
"Ja. Du weißt ja, er bleibt sehr lange fort."
"Aber warum kommt er uns nicht mal besuchen?"
"Afrika ist viel zu weit. Und eine Reise im Flugzeug ist teuer."
"Dann könnte er doch mit dem Schiff fahren."
"Das ist auch teuer und dauert zu lang. Papa hat nicht so lange Urlaub."
Tom war traurig. Er hatte heute bei Frau Schubert ein besonders schönes großes Bild vom Urwald gemalt. Das hätte er Papa gern geschenkt. Aber er konnte es ja für ihn aufheben.
Am Nachmittag hatte die Mutter auch keine Zeit für ihn, weil sie alles, was sie hatten, in Kisten packen musste.
"Warum tust du das?", fragte Tom.
"Weil wir in die Stadt ziehen."
"Warum?"
"Weil ich wieder arbeiten will. Und dort ist es leichter, eine Stelle zu bekommen.
"Du musst gleich an Papa schreiben. Er weiß doch nicht, dass wir umziehen. Und nachher findet er uns nicht, wenn er wiederkommt."
Die Mutter antwortete nicht sofort. "Papa reist die ganze Zeit in Afrika herum", sagte sie schließlich. "Deshalb kann ich ihm auch nicht schreiben. Ich wüsste nicht, wohin ich den Brief schicken sollte."
Tom dachte wieder an die Bilder in seinem Afrikabuch.
"Ist er gerade in einem Negerdorf?", fragte er.
"Schon möglich."
Tom ging in sein Zimmer, um das Buch zu suchen. Er wollte sich das Negerdorf noch einmal genau ansehen. Da gab es einen Medizinmann, der alle wieder gesund machen konnte, und den Häuptling. Der Häuptling war so etwas wie ein König. Alle gehorchten ihm. Vielleicht war Papa Medizinmann in solch einem Dorf geworden. In dem Labor, wo er arbeitete, hatte er ja schließlich immer nach einer neuen Medizin gesucht. Oder er war Häuptling geworden und alle bewunderten ihn und mussten tun, was er sagte, so wie die Leute im Labor.
Er fand das Buch über Afrika und nahm es mit, als seine Mutter ihn nachmittags wieder zur Nachbarin brachte. Frau Schubert las ihm alles vor, was darin stand, und sah sich mit ihm zusammen die Bilder an. Als Tom ihr erzählte, dass sein Papa in Afrika und dort vielleicht Medizinmann oder Häuptling war, strich sie ihm über seine dunklen Locken und sah ihn dabei so merkwürdig an. Oder bildete er sich das nur ein?
Als er abends nach Hause kam, war die Wohnung schon ziemlich leer. Richtig schrecklich. Tom wurde traurig, als er das sah. Zum Glück war sein Bett aber noch genauso gemütlich wie vorher.
"Eins verstehe ich nicht", sagte er, als seine Mutter ihn warm zudeckte. "Warum hat Papa mir nicht auf Wiedersehen gesagt? Das tut er doch immer, bevor er verreist."
"Er musste ganz plötzlich fort und er wusste, dass er sehr, sehr lange wegbleiben würde. Er wollte nicht, dass du traurig wirst."
"Ich bin aber traurig!", sagte Tom.
Seine Mutter gab ihm einen Kuss. "Weißt du was?", schlug sie vor, "Am besten denkst du gar nicht mehr an ihn. Dann wird dir die Zeit nicht lang und das Warten fällt dir nicht mehr so schwer."
Aber Tom konnte nicht so einfach aufhören, an ihn zu denken. Oft lag er in seinem Bett und stellte sich vor, welche Abenteuer Papa in Afrika gerade erlebte. Er kämpfte sich durch den Urwald, fand Gold in einem Fluss und ritt auf einem Kamel durch die Wüste. Oder er ging auf die Jagd und schoss viele Löwen tot. Tom konnte Löwen nicht leiden, weil sie Menschen und Tiere fraßen. Und zwischendurch machte Papa kranke Leute wieder gesund mit seiner neuen Medizin. Vielleicht war er schon ein berühmter Mann geworden in Afrika!
Tom und seine Mutter zogen um, und schon bald gefiel es ihm sehr gut in der anderen Wohnung. Mit der Zeit dachte er tatsächlich viel weniger an seinen Vater. Aber eines Nachmittags, als er vom Spielplatz hinter dem Haus kam, traf er eine Frau, die er noch von früher kannte.
"Tom!", rief sie. "Was für ein Zufall, dass ich dich hier treffe! Wie geht es euch denn?"
"Uns geht es gut", erzählte Tom. "Ich bin im Kindergarten, Mama geht zur Arbeit und Papa ist in Afrika."
"Wieso sagst du, er ist in Afrika?", fragte die Frau erstaunt.
"Weil er in Afrika ist."
"Hast du dir das ausgedacht oder hat deine Mama das erzählt?"
"Meine Mama hat das gesagt, und wenn sie was sagt, dann stimmt es auch." Toms Augen füllten sich mit zornigen Tränen. Es ärgerte ihn maßlos, dass diese Frau ihm anscheinend nicht glauben wollte.
"Na, dann grüß die Mama mal von mir", sagte sie und ging schnell weiter.
Tom lief nach Hause. Als seine Mutter hörte, was die Frau gesagt hatte, wurde sie sehr, sehr böse. "So eine dumme Person!", schimpfte sie, und plötzlich liefen auch ihr Tränen über das Gesicht.
"Weine nicht, Mama", tröstete Tom sie. "Bald kommt Papa bestimmt wieder zurück zu uns. Er ist doch schon so lange fort."
Danach redeten sie eine ganze Zeit nicht mehr von Papa. Stattdessen sprachen sie vom Kindergarten, von Toms neuen Freunden und ein bisschen von Mamas Arbeit. Auch wenn Tom abends im Bett lag, dachte er nur noch selten an Papa und an Afrika.
Aber eines Morgens, als er mit seiner Mutter in den Bus stieg, weil sie in der Innenstadt etwas besorgen wollten, blieb er wie angewurzelt mitten im Gang stehen. "Da ist Papa!", schrie er aufgeregt und zeigte auf einen Mann, der weiter hinten saß. Dann riss er sich los und rannte auf ihn zu. Der Bus fuhr sehr plötzlich an, sodass Tom dem Mann direkt in die Arme fiel.
Natürlich war es nicht Papa. Er sah nur so aus, weil er ganz ähnliche Haare und Augen hatte. Der fremde Mann lachte Tom und seine Mutter an und seine weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht.
"Kennst du vielleicht meinen Papa?", fragte Tom.
"Nein. Warum du glauben, ich kenne ihn?"
Der Mann sprach sehr merkwürdig.
"Weil du aus Afrika kommst."
"Du denken, weil ich bin schwarz? Ich nicht kommen von Afrika. Ich kommen von Amerika."
"Entschuldigen Sie", sagte die Mutter und zog Tom mit sich fort zu einem anderen Sitz. Unablässig starrte Tom den Mann an. Mit seinem breiten Rücken und den krausen schwarzen Haaren sah er von hinten wirklich genauso aus wie Papa.
Nach dem Einkauf machte die Mutter ihr verheißungsvolles Gesicht. "Und jetzt", sagte sie, "weil du so lieb gewesen bist, spendiere ich dir einen riesengroßen Eisbecher." Tom zögerte. Er aß für sein Leben gern Eis. Aber...
"Kannst du mir lieber das Geld geben?", bat er.
"Möchtest du dir etwas anderes kaufen?"
"Nein, ich will es in meine Spardose tun."
"Wofür sparst du denn?"
"Ich will bald nach Afrika fahren, Papa besuchen. Mit dir. Und ich habe auch schon ganz viel Geld zusammen."
Was Tom da sagte, schien die Mutter sehr traurig zu machen. Und sie hatte nun auch keine Lust mehr, ins Eiscafé zu gehen. Auf der ganzen Rückfahrt sprach sie kaum ein Wort.
Zu Hause holte Tom sofort seine Spardose. Sie war schon richtig schwer. Er wollte sie Mama zeigen. Seit Papa nach Afrika gefahren war, hatte er fast jeden Cent hineingetan, den er geschenkt bekam. Sicher reichte es schon bald für die Reise.
Die Mutter saß auf dem Sofa. "Komm einmal her zu mir", sagte sie zu Tom, "ich muss dir etwas erklären."
Er stellte die große Spardose auf den Tisch und setzte sich neben sie. Die Mutter legte den Arm um ihn.
"Was ich dir jetzt erzähle, wirst du noch nicht verstehen. Vielleicht später einmal. Aber ich muss es dir trotzdem sagen."
Tom sah sie ängstlich an. Seine Mutter machte ein so ernstes Gesicht. Sie räusperte sich mehrmals, ehe sie weitersprach.
"Papa ist nicht in Afrika", sagte sie leise. "Er hatte einen Unfall. Es passierte, als du vor einiger Zeit ein paar Tage bei Oma warst.
"Und wo ist Papa jetzt?", fragte Tom.
"Er ist tot."
Tom konnte das gar nicht so richtig verstehen. Er wartete ab, was sie als Nächstes sagen würde.
"Ich habe gehofft", fuhr die Mutter fort, "es wäre für dich nicht so schlimm, wenn ich dir erzähle, dass er in Afrika ist. Ich dachte, du würdest eine Zeit lang auf ihn warten, immer seltener an ihn denken und ihn schließlich fast vergessen. Und dann, irgendwann einmal, wenn du dich kaum noch an ihn erinnern kannst, wollte ich dir sagen, dass er tot ist.
Tom hatte auf einmal Angst. Tränen stürzten aus seinen Augen. "Ich will zu meinem Papa", schluchzte er, "bitte, ich will zu meinem Papa!" Mit zitternden Händen hielt er seiner Mutter die Spardose hin.
"Kein Geld der Welt kann uns zu deinem Papa bringen", sagte sie. "Nur sein Grab können wir noch besuchen. Aber eines Tages, und darauf kannst du dich jetzt schon freuen, eines Tages werden wir beide nach Afrika fahren. Und dann wirst du das Land kennen lernen, aus dem er kam und das er so sehr geliebt hat. Das verspreche ich dir."
"Machen wir das auch bestimmt?", fragte Tom.
"Ganz bestimmt."
"Und du lügst mich nicht an?"
"Ich lüge dich nie wieder an!"
Tom kletterte auf den Schoß der Mutter, schlang seine Arme um ihren Hals und presste sein nasses Gesicht an ihre Wange. "Dann kann ich ja das nächste Mal den Eisbecher nehmen", sagte er.



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