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Am Njassasee

©  Ulrike Maria Hund


Ich grub Bwana shamba, den "Herrn der Felder", wie seine Arbeiter ihn nannten, in den Sand ein. Ich schaufelte mit beiden Händen Sand auf ihn, bis nur noch sein Kopf herausschaute: ein rotes Gesicht im Sand. Wir lagerten in einer Mulde im Schatten eines Baumes. Claudia hatte ein Buch in der Hand, aber sie las nicht. Sie sah uns zu.
Ich wusste nicht, was sie dachte, sie sagte nicht viel. Es störte mich nur, dass sie da saß und uns zusah, wie sie es immer tat. Vielleicht durchschaute sie das Spiel, aber wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich war das einzig Störende an ihr, dass sie niemals Spiele trieb. Bwana shamba wurde allmählich unruhig. Aber ich hatte plötzlich keine Lust mehr und stand auf, um schwimmen zu gehen.
Die Düne fiel sanft zum Meer ab. - Es sah aus wie das Meer, aber wir lagerten an der Bucht eines Sees, des Njassasees an der südwestlichen Grenze Tansanias. Am südlichen Horizont war ein blauer Bergrücken zu sehen, sonst nur Wasser, dunkelblaues Wasser, das vom Wind gekräuselt wurde. Es war noch früh am Morgen. Wir liefen über den körnigen Sand zum Ufer. Morgens liegt das Wasser klar und ruhig da. Ich lief weit hinein, so weit, dass mir das Wasser zum Bauch reichte, dann schwamm ich hinaus. Die Stimmen der anderen verloren sich hinter mir. Ich lag auf dem Rücken, der Himmel über mir war hellblau, ein Vogel zog lautlos seine Kreise. Er bewegte kaum die Flügel, kreiste auf dem Wind höher und höher.
"Ein Seeadler", sagte Bwana Shamba, als ich wieder bei den anderen am Ufer saß. Ich beobachtete den Vogel, wartete darauf, dass er aus der Höhe herab ins Wasser stoßen würde, aber er entfernte sich von uns, bis ich ihn aus den Augen verlor.
Gestern waren wir von einer abgelegenen Missionsstation oben in den Bergen gekommen: Bwana shamba, der Entwicklungshelfer dort war, meine Schwester Claudia und ich. Unsere Tante lebte auf einer Missionsstation, und wir waren seit ein paar Wochen zu Besuch bei ihr. In den Bergen war es noch kalt gewesen, es war Winter und Trockenzeit, aber hier unten am See war das Klima mild. Unsere Tante hatte eigentlich selbst mitfahren wollen, aber dann war sie plötzlich krank geworden und hatte uns mit Bwana an den See geschickt. Sie selbst konnte nicht mit.
Wir waren zu Gast in einer Benediktinerabtei. Im Hof wuchs eine riesige Dattelpalme, und im Kloster roch es wie in den alten Kreuzgängen Mitteleuropas, kühl und ein wenig feucht. Die Gänge waren lang, viele Türen gingen ab, aber nur zwei Mönche, fast so alt wie das Kloster, lebten noch hier. Sie freuten sich über unseren Besuch, wie sie sich immer freuten, wenn einer der seltenen Gäste aus den umliegenden Missionen vorbeikam. Wir hatten zusammen auf der Veranda gesessen und tranken selbstgebrauten Orangenwein - eher Most als Wein. Der Abend war lau, kein Windhauch zu spüren. Der jüngere der beiden Brüder (wenn überhaupt ein Unterschied zu erkennen war), zog an seiner Pfeife und schaute zum See hinaus. "Der See sieht so friedlich aus...", murmelte er, und zwischen seinen Brauen bildeten sich zwei senkrechte Falten. Bald darauf gingen wir zu Bett. Der Abend versank so plötzlich, wie der Morgen kam.
Ich blinzelte in die Sonne. Der Schatten des Baumes, unter dem wir lagen, wanderte, mit ihm verlagerten wir unsere Decken und Tücher. Der Sand war jetzt so heiß, dass er fast die Füße verbrannte. Hinter dem Bergrücken hatten sich Wolken zusammengeballt, weiße Wolken, die über dem Gebirge hervorquollen. Ein paar Kinder hatten uns entdeckt. Die kraushaarigen Köpfe auf die Arme gestützt, lagen sie im Sand. Wenn wir nicht auf sie achteten, krochen sie auf dem Bauch heran. Bald waren schon ihre Füße zu erkennen, überkreuz in die Luft gestreckt, so dass die Sonne auf ihre Fußsohlen schien. Jetzt sahen wir schon ihr Augenweiß, kurze Hosen über einem geringelten Pullover, der nur bis zum Bauchnabel reichte. Spiel mit den Zehen in der Luft. Sie betrachten uns. Vielleicht wollen sie eine Fischdose haben. Wir werden am Abend eine leere Dose in die Büsche stecken, damit sie ein Lastauto daraus bauen können, oder ein Boot. Jetzt sind sie schon auf Armlänge heran. Bwana shamba klatscht in die Hände, da laufen sie so weit weg, dass wir im flimmernden Licht nur ihre Köpfe sehen, Stecknadelköpfe im Sand, die allmählich näher rücken.
Am rechten Horizont ist auf dem See ein dunkler Strich aufgetaucht. Er nähert sich, es ist ein schmales Boot auf der glitzernden Wasserfläche, zwei Männer sitzen aufrecht darin, stoßen die Paddel ins Wasser. "Wollen wir Fisch braten am Abend?" Die Fischer paddeln vorbei, immer am Ufer entlang, wir verlieren sie aus den Augen. Jetzt rollen kleine Wellen ans Ufer, sie umspielen unsere Knöchel. Wir gehen alle drei ins Wasser. Ich bin erhitzt, fröstle ein wenig, ein Schauer, als das Wasser den Bauchnabel erreicht. Dann werfe ich mich hinein, schwimme weit hinaus, weiter als die andern, so schnell ich kann, lege mich schließlich auf den Rücken, lasse mich treiben, hin- und herschaukeln. Der Vogel ist fort, der Himmel ist hell, einzelne Wolken haben sich hinter dem Bergrücken gelöst, sie werden vom Wind gezogen, reißen auseinander, verändern ihre Form. Ihre unteren Ränder sind dunkel, als träfe sie ein Schatten vom Land. Wie kleine Kuchen sehen sie aus. Am Boden angekokeltes Baiser. Eine Welle schlägt mir ins Gesicht, ich schlucke Wasser, Süßwasser. Schlaraffenland. Eine zweite Welle hebt mich hoch, diesmal bleibe ich oben. Unten ist das Wasser kühl und dunkel. Vorsichtig strecke ich einen Fuß hinab. Plötzlich greift etwas nach meinem Knöchel. Ich schreie auf, stoße mit der Ferse, so dass ich mir weh tue. Er lacht. Es ist Bwana shamba. Wir schwimmen zurück, legen uns ans Ufer. Lassen die Wellen um unsere Körper streichen.
"Dort kommt das Boot wieder, kannst du es sehen?" Bwana shamba springt auf, winkt mit den Armen. Das Boot schwenkt vom Kurs ab, kommt ans Ufer. Zwei Männer springen heraus, ein alter mit weißem Bart und ein jüngerer. Sie ziehen das Boot ans Ufer. Es ist ein Einbaum, schmal, lang, von innen ausgehöhlt. Die Ränder gehen oben ein wenig zusammen, Bwana shamba verhandelt mit ihnen. Sie haben keinen Fisch, aber wenn wir wollen, nehmen sie uns ein Stück mit. Claudia ist längst wieder in den Schatten des Baumes zurückgekehrt, sie schüttelt den Kopf, aber ich steige ein. Als ich mich setzen will, merke ich, dass die Öffnung des Bootes zu schmal für mich ist. Die Männer lachen, sie setzen sich auf den Rand, jetzt verstehe ich, ich sitze an der Spitze des Bootes, lasse die Hand durchs Wasser gleiten, die Männer stoßen die Paddel senkrecht ins Wasser, sie paddeln gleichmäßig. Der ältere hat einen weißen Bart, seine Haare sind wie Asche auf seinem grauen Haupt. Das Boot gleitet durch die Wellen, es schneidet sie, wird von ihnen geschaukelt. Sie beobachten mich, ich weiche ihrem Blick aus, sehe aufs Wasser, sie tauschen untereinander ein paar Worte. Bwana shamba und Claudia sehen uns vom Ufer aus zu. Bald sind nur noch ihre Silhouetten zu erkennen. Wir paddeln ein Stück die Bucht entlang. Ich bin angespannt, froh, als wir umdrehen und ans Ufer zurückkehren.
Die Wellen überschlagen sich jetzt, rollen schäumend ans Ufer. Claudia und ich laufen in die Wellen, wir werfen uns gegen sie. Ihre Kraft wirft uns um. "Ihr müsst darunter durchtauchen", ruft Bwana shamba uns zu, ich versuche es, halte die Luft an, schon kommt die nächste Welle, kaum bin ich daraus aufgetaucht wieder die nächste. Ich kämpfe mich ans Ufer zurück, lasse noch eine Weile den Schaum um meine Knöchel spielen. Jetzt ziehen die Wellen Sand mit ins Wasser. Sie machen ein saugendes Geräusch dabei, das mir unheimlich ist.
Ich gehe zu unserem Lager zurück. "Geh nicht zu weit rein", rufe ich Claudia noch zu, dann lege ich mich hin. Der Sand, den die Wellen auf meinem Bauch gespült haben, trocknet schnell, nur die Haare sind noch nass. Unablässig rollen die Wellen ans Ufer. Selbst draußen sind weiße Schaumkronen zu sehen. Sie glitzern auf dem immer noch blauen See. Bwana shamba richtet sich auf, mit der Hand überschattet er die Augen, schaut aufs Wasser, schaut auf die auf- und abtauchende Claudia, plötzlich springt er auf. "Sie ist weg", ruft er, schon rennt er zum Ufer. Ehe ich etwas begreife, trägt er die bewusstlose Claudia an Land, er schlägt ihr die Arme kreuzweise über die Brust, hält ihr mit beiden Händen den Mund auf, stößt Luft hinein. Ich stehe daneben, höre Luft pfeifen, sie könnte eine Rotkreuzpuppe sein. Ich muss beinahe lachen.
Da schlägt Claudia die Augen auf. Bwana shamba hält ihren Kopf. Er dreht sie zur Seite, sie erbricht sich. Dann stammelt sie etwas. Ich halte mein Ohr dicht an ihren Mund. Sie faselt zusammenhangloses Zeug. Von der Schule. Ihrem Lehrer. Sie glaubt, sie sei im Klassenzimmer. "Claudia!" Sie erkennt mich nicht. Sie ist verrückt.
Bwana shamba wickelt sie in Decken. Sie schläft ein. Ich sitze neben ihr. Die Sonne ist eine kleine helle Kugel. Mir ist kalt.
Als Claudia aufwacht, sagt sie: "Ich friere." Sie erkennt mich. Sie hat Schüttelfrost, wir tragen sie zum Jeep zurück. Bwana shamba trägt sie. Ich gehe neben her, spüre das Rascheln der Blätter unter meinen Füßen, schaue auf ein Feld mit Ananas. Die Blüten wachsen aus der Mitte eines struppigen Busches, später die Frucht. - Wir kommen nicht zurück.



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