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Ein Tod in Marlboro-Country und andere Geschichten aus der Zeit, als es das Mittelmeer noch gab
© Karla Montasser
Je mehr Europa von Afrika wusste, um so weniger sagte es ihm.
K.R.
Geschichte aus der Zeit, als es das Mittelmeer noch gab
Hurra! Ich fahre mit einem Schiff durch das Mittelmeer und den Suezkanal
bis nach Afrika. Es ist wie auf einem Kreuzfahrtsschiff, nur dass mein
Schiff Container transportiert und keine Urlauber, weil es ein
Containerschiff ist. Ich sitze also jeden Tag inmitten all meiner
Container und warte darauf, dass es heiß und feucht wird, Eingeborene
und wilde Tiere vorbeikommen und ich jede Menge Abenteuer erlebe.
Afrikanische Abenteuer natürlich, die am besten ganz anders sind als zum
Beispiel europäische, von denen ich ja zu Hause schon genug habe. Heute
fahren wir durchs Mittelmeer.
Das Mittelmeer ist im Grunde wahrscheinlich sehr blau, aber über der
Wasseroberfläche liegt schon den ganzen Tag ein weißer Schleier. Man
kann zwar manchmal vom Schiff aus Land sehen, aber die Luft ist sehr
feucht und warm und deswegen diesig. Wenn man aus der Tür tritt, fühlt
es sich so an, wie die heißen feuchten Erfrischungstüchlein, die man in
Flugzeugen von hübschen Stewardessen gereicht bekommt.
Das Mittelmeer ist ein hübsches Meer und es ist wie ein heißes Tuch, das
man den Reisenden zur Erfrischung reicht, aber ich fürchte, es wird
immer kleiner. Es verdampft einfach.
Eines Tages wird es vielleicht gar kein Mittelmeer mehr geben. Dann
gehen die Menschen zu Fuß von Afrika nach Europa und umgekehrt, aber sie
werden es nicht wissen, denn es wird ja gar kein Meer mehr zwischen den
Kontinenten geben und deswegen wird es sinnlos sein, von Kontinenten zu
sprechen.
Die Inseln am Horizont werden dann keine Inseln mehr sein, sondern sich
zu großen Gebirgen aufwerfen, die bis nach Bayern reichen. Ich stelle
mir vor, mein Schiff liegt dann irgendwo auf dem Weg zwischen Tunesien
und Italien oder zwischen Algerien und Spanien. Vielleicht kommen die
Menschen bei mir vorbei. Ich werde ihnen heiße Tücher anbieten für ihre
reisemüden Hände. Und sie werden mich fragen, wie es denn hier aussah.
Damals, als es das Mittelmeer noch gab.
Genau in der Mitte zwischen Nigeria und Deutschland
Für Vyoni Mkahlela
Als ich mal ein Klopstockerlebnis hatte, war es Frühling und ich lief
mit einem nigerianischen Freund durch Jaffa. Es war der erste Tag seit
langem, an dem mein Freund und ich frei hatten, und wir unterhielten uns
über Goethes Faust, nigerianische Volkskunst und darüber, wie es bei uns
Zuhause so aussieht.
Mein Freund ist bei seinem Stamm in Nigeria so was wie ein Prinz, was
besser klingt als es ist. Ich habe im Laufe meines Lebens drei
afrikanische Prinzen und eine europäische Comtesse kennen gelernt, und
alle waren mehr oder weniger unzufrieden mit ihrem Leben und reisten
immer hin und her, ganz durchgerüttelt von Heimweh und Fernweh.
Auf unserem Spaziergang kamen wir an einem kleinen Park vorbei. In dem
Park floss ein Bach, der durch die Frühlingsgewitter über die Ufer
getreten war und einen kleinen Teich bildete. Einige schon grüne Birken
mit langen gelben Kätzchen wuchsen aus dem Wasser. An einer der Birken
hatte jemand ein selbstgebautes Floß festgebunden, das sanfte Wellen
schlug. Vögel stießen nach Larven und im Wasser spiegelten sich die
Schäfchenwolken als sei der Teich ein mit Himmel bedrucktes Tuch, das
jemand für ein Picknick ausgebreitet hatte.
Man kann darüber denken, was man will, mein Freund und ich jedenfalls
sagten gleichzeitig: "That´s exactly how it is at home." Natürlich sahen
wir uns danach etwas misstrauisch an. Ich meine, man weiß ja nie, was
einem Ausländer so alles erzählen. Aber mein Freund schwor Stein und
Bein, dass es im Frühling in Nigeria genau so aussähe und ich schwor es
für Deutschland.
Später am Tag wurde an unserer Bushaltestelle gerade noch eine Bombe
entschärft und ich fiel ein bisschen in Ohnmacht, weil es so laut war
oder einfach so. (Ich war damals schwanger und fiel zu allen möglichen
Zeitpunkten beinahe in Ohnmacht.)
Ich weiß noch, dass ich gerade versuchte, meinem Freund zu erklären, was
ein Klopstockerlebnis ist und dass der Begriff von Goethe stammt, mein
Freund aber unbedingt die wörtliche Übersetzung von "Klopstock" ins
Englische hören wollte und über "hitting stick" sehr irritiert war (man
weiß ja nie, was einem Ausländer so erzählen und mein Englisch ist alles
andere als perfekt).
"You mean your grandfather built up this park?", fragte er schließlich
ratlos. Und ich sagte noch etwas wie, um Himmels willen nein, das sei ja
nur ein weiteres interkontinentales Missverständnis, dieser Goethe sei
überhaupt nicht mit mir verwandt und schon gar nicht mein Großvater
gewesen. Der Goethe, der mein Großvater war, sei Ingenieur gewesen und
hätte nichts weiter erfunden als eine Lohnberechnungstabelle für das
Baugewerbe. Und was diese Fragerei überhaupt sollte, schließlich seien
wir nicht beim Security-Check.
Dann machte die Scheißbombe, die in einer scheißblau-getupften
Babywindel eingepackt gewesen war, einen großen Knall, meine Knie wurden
weich und ich rutschte an einem Betonpfeiler zu Boden.
Dabei verlor ich mein Kind, das ein afrikanisches gewesen wäre.
Vielleicht haben wir deswegen nie wieder über unser Klopstockerlebnis
gesprochen, obwohl ich jetzt sogar nach Afrika fahre und mein Freund in
der Schweiz internationale Ökonomie lehrt.
Für weitergehende Recherchen habe ich im Moment leider keine Zeit. Aber
wenn ich mir jetzt einen Atlas holen würde, bin ich mir sicher, dass
dieser Park in Jaffa exakt in der Mitte zwischen Nigeria und Deutschland
liegt.
Ein Tod in Marlboro-Country
Das Schiff besitzt einen Fahrstuhl. Er ist erst vor kurzem Vorschrift
geworden und wurde extra für das Schiff gebaut, das also auch ganz neu
ist. Ich mache mir wegen des Fahrstuhls erhebliche Sorgen. Er ist sicher
eine große Hilfe, aber man darf darüber nicht vergessen, dass er auch
furchtbare Nachteile mit sich bringt.
Dazu muss ich vielleicht ein paar Worte zu den europäischen Lotsen
verlieren. Die europäischen Lotsen tragen gerne Sonnenbrillen und
GMDSS-Funkgeräte und sie sind alle sehr sportlich. Sie rasen mit ihren
kleinen Lotsenrennbooten frontal auf das Schiff zu, bis sie es fast
rammen, ziehen dann einen eleganten Schlenker und geben einen rassigen
Lotsenbootton von sich. Zeitgleich wird mittschiffs an Backbord eine
Strickleiter mit ca. hundert Stufen herabgelassen und die Gangway zu
zwei Dritteln gesenkt. Die europäischen Lotsen ergreifen selbst bei
hohem Wellengang die wacklige Strickleiter, krallen sich an ihr fest,
klettern in Windeseile an ihr hoch, schwingen sich auf die Gangway,
nehmen immer zwei Stufen auf einmal und salutieren oben lässig dem
Bootsmann. Sie sind so sportlich, dass sie alle Namen tragen könnten wie
Northseaattack, Atlantikhero oder Biskayaman.
Die europäischen Lotsen benutzen den Fahrstuhl natürlich nie. Ich bin
mir sicher, dass sie die acht Stockwerke über Deck und die fünf
Stockwerke im Maschinenraum in einem Stück hoch laufen könnten, ohne
auch nur aus der Puste zu geraten. Ich habe erst ungefähr 36 von ihnen
gesehen, zwei bis vier an jedem Hafen beim Anlegen und beim Ablegen,
aber ich behaupte, dass sie alle aussehen wie James Bond. Sie sind
schmal, drahtig, sie haben verwegene Gesichter, und ihnen zuzusehen ist
ungefähr genauso interessant, wie einen James-Bond-Film anzuschauen.
Anders verhält es sich mit den Lotsen im Suez-Kanal, dem Teil der Welt,
der von den Matrosen "Marlboro-Country" genannt wird. Und das nicht
etwa, weil Ägypten ein Land voll grüner Hügel mit wilden Pferde wäre.
Es gibt sone und solche Lotsen, nette und weniger nette, aber alle sind
unglaublich behäbig. Ich bin auch nicht gerade dünn, ich weiß, wovon ich
spreche, aber diese Lotsen sind wirklich fett. Dazu rauchen sie Unmengen
an zollfreien europäischen Zigaretten, weil sie sich damit bestechen
lassen müssen.
Ich sage müssen, denn es ist bei ägyptischen Lotsen alles mehr eine
Frage des Status als des freien Willens. Wenn sie an Bord kommen,
befehlen sie dem Schiff, ganz langsam zu fahren und die Gangway bis
knapp über die Wasseroberfläche herabzulassen. Sobald sie sich auf die
untere Plattform gewuchtet haben, geben sie das Zeichen, dass man damit
beginnen soll, sie hoch zu hebeln. Dabei zünden sie sich schon die erste
zollfreie Zigarette ihrer Lieblingsmarke an, damit die Mannschaft auch
weiß, womit sie sie zu bestechen hat. Meistens reagieren diese aber gar nicht darauf, sondern geben den Lotsen
Marlborostangen und Softdrinks. Sie behaupten einfach, dass die
Suez-Lotsen am liebsten mit Marlborozigaretten und Softdrinks bestochen
werden wollen, aber ich weiß zum Beispiel von einem Lotsen, dass er am
liebsten Gauloises blond raucht.
"Na ja," sagt der Kapitän dann, "das hier sind sicher nicht die
Nachfahren der Ägypter, die die Pyramiden gebaut haben."
Ich aber frage: Woher bitte kann er das wissen?
Dies aber ist nur eines der Vorurteile, mit denen die Suez-Lotsen zu
kämpfen haben. Eine andere Erleichterung, die immer wieder von neuem von
ihnen eingeklagt werden muss, ist ein Sessel auf jedem Deck. Es ist
ziemlich anstrengend, acht Decks hochzusteigen, wenn man alt und fett
ist, aber diese verdammten agilen Seeleute denken da einfach nicht dran.
Einmal ist so schon ein Suez-Lotse auf denkbar unwürdige Weise zu Tode
gekommen. Er hieß Gameel Ali Shamrouke. Unten auf der Gangway war er
noch ganz bei sich und sah gelassen zur Brücke hoch, dann stieg er
tapfer bis zum F-Deck, ließ sich in einen herbeigeschafften Sessel
fallen, schnaufte und kippte mitsamt dem Sessel um.
Er lag da, fett und tot, inmitten einem Haufen von Marlboroschachteln,
weil keiner auf ihn achtgegeben hat. Es war schwierig, Herrn Shamrouke
vom F-Deck aufs A-Deck in die Krankenstation zu bringen. Er wog bestimmt
drei Zentner. Drei Männer waren nötig, um ihn zu schleppen. Und es gab
ja noch keinen Fahrstuhl.
Es gab übrigens auch noch keinen Sarg an Bord, der wurde erst nach
diesem oder einem ähnlichen Zwischenfall eingeführt, woran man sehen
kann, wie außerordentlich gefährlich die Schifffahrt geworden ist.
Der Nil
Ich bin mir sicher, dass der Nil früher mal ein Mann war, der sich aus
irgendeinem Grund in der Wüste befand. Er stand kurz vor dem Verdursten.
Es war mitten in der tiefsten äthiopischen Wüste und er war nicht nur
durstig, sondern hatte auf einmal Heimweh nach dem Meer in Ägypten. Er
lag im Sand und streckte seine Arme aus, schlang sie umeinander, betete,
und wünschte sich nichts mehr, als dass sie immer weiter wüchsen, bis
sie zum Mittelmeer reichen würden.
Den heißen Wüstengöttern irgendeiner weit zurückliegenden Dynastie
gefiel dieser Wunsch. Sie erschufen mitten in der Wüste Süßwasserquellen
und verwandelten die verschränkten Arme des Mannes in einen langen Fluss
mit weit ausgestreckten Fingern.
Herzklappen
Auf der Sinai-Seite des Suez-Kanals haben die Ägypter damit begonnen,
die Erde aufzuwerfen. Sie haben Straßen für eine kleine, noch unbenannte
Stadt gebaut und in kurzem Abstand Laternen an die Ränder gestellt, die
abends die leeren Straßen beleuchten.
Man hat schon lange aufgehört, die Menschen zu zählen, die in Kairo
leben, aber jeder weiß, dass die Stadt bald viel zu eng sein wird. Schon
jetzt ist die Stadt wie ein Herz mit fehlerhaft erweiterten Klappen, das
sich jeden Tag anstrengen muss, damit es nicht kollabiert.
Die Menschen haben kaum noch Platz, sie wohnen sogar auf den Friedhöfen
der Mamelucken, wo es kein Wasser gibt, denn niemand hat in Kairo an
Wasser für die Toten gedacht. Es ist mitten in der Nacht, ich liege mit
einem pochenden Schmerz in der Brust wach und denke an all die Menschen
in Kairo, die ich liebe. Ich denke daran, wie sehr ich sie vermisse und
ob ich sie wohl jemals wiedersehen werde. Diese Nacht ist kalt wie die
Wüste. Sie schneidet in mein Herz, ein Chirurg mit einem müden,
ungeschliffenen Messer.
Ich habe Angst davor, zu sterben, und Angst davor, dass die Menschen
sterben, die ich liebe, und dass ich auf ihren Gräbern wohnen muss oder
sie auf meinen.
Was ich sagen will: Noch haben die Straßen und Laternen keine Häuser.
Aber das erste, was Menschen brauchen, sind Wege und Licht. Und von sehr
weit oben sieht die Sinai-Halbinsel aus wie eine künstliche Herzklappe.
Kolonialistisches Theaterstück
Für Amgard Montasser
Heute bin ich mit einem englischen Freund in das Heimatdorf seines
Urgroßvaters gefahren, um dort Geld und Medikamente an die Armen zu
verteilen. Mir war das am Anfang unangenehm. Mein Freund aber sagte, ich
solle mich nicht so anstellen, er mache das jedes Jahr vor Ramadan, und
ich würde schon sehen, wie viel Spaß wir alle miteinander haben könnten.
Wir haben also zusammen mit dem Dorfältesten eine Liste der bedürftigen
Familien erstellt und Pakete mit Kopfschmerztabletten, Mullbinden,
Vitaminen und ähnlichen Dingen zusammengepackt. Dazu haben wir jeweils
zehn Pfund gelegt. Eigentlich wollten wir an den Türen der Familien
klopfen und die Pakete einzeln übergeben. Aber sobald eine Familie
wusste, dass wir im Dorf waren, kamen natürlich gleich alle angerannt.
Alte, Junge, Kinder und wirklich Uralte, die natürlich nicht mehr rennen
konnten, nur humpeln, und die sogar den Urgroßvaters meines Freundes
noch kannten.
Mein Freund ließ sich durch den Dorfältesten die jeweilige Situation der
Familie schildern, prüfte dann sorgfältig die Liste, strich den Namen
durch und reichte mir ein Paket. Meine Rolle war es, das Paket in die
ausgestreckten Hände weiterzugeben.
Einige Arme setzten sich hin, als würden sie geduldig warten, andere
schrieen und reckten die Hände, noch andere warfen sich zu Boden,
krochen auf uns zu und küssten unsere Füße. Die Kinder liefen herum und
tranken Softdrinks, die wir besorgen ließen, als wir feststellten, dass
die ganze Sache etwas länger dauern würde. Sie dauerte den ganzen
Nachmittag, war sehr aufregend und wir haben viel von den Sorgen der
Menschen hier erfahren.
Gegen Ende wurde es etwas chaotisch, weil die Spannung nachließ und die
armen Menschen ja auch noch anderes zu tun haben, als herumzusitzen. Als
wir lieber zurückfuhren, teilten sie die letzten Pakete einfach unter
sich auf.
Zehn ägyptische Pfund sind nicht wirklich viel Geld, selbst auf dem Land
nicht. Es reicht vielleicht für eine bis zwei warme Mahlzeiten mit
Hühnchen oder Rindfleisch. Ich meine, die Menschen hier sind arm,
bitterarm. Trotzdem kann ich schwören, dass sie es nicht nötig hatten,
wegen ein wenig Geld oder Medikamenten zu uns zu kommen. Mein Freund
hatte recht: In Wahrheit waren sie Schauspieler in einem Theaterstück
aus der Kolonialzeit. Jede Rolle saß perfekt. Und wir alle hatten viel
Spaß miteinander.
Der Kleiderständer der Muhammad-Ali-Moschee
Die Kaftane hängen alle an einem freistehenden hölzernen Kleiderständer
neben dem Eingangstor. Bevor sie den Innenhof der Muhammad-Ali-Moschee
betreten darf, wird jeder Touristin, deren Beine und Arme
nicht bedeckt sind, so ein leuchtend grüner, unförmiger Kittel
übergestülpt. Das sieht ziemlich lustig aus, so als seien die
Touristinnen alle todkrank und gerade von einem Operationstisch
aufgestanden.
Sie müssen auch ihre Schuhe ausziehen, was den Eindruck des Krankseins
natürlich noch verstärkt. Denn wer, bitteschön, läuft schon freiwillig
barfuß über heißen Marmorboden oder Teppichware.
Männer dürfen übrigens in Shorts in die Moschee. Normalerweise müssten
auch sie mindestens bis über die Knie bedeckt sein. Aber das hier ist ja
auch kein wirklich heiliger Ort mehr, sondern eine Sehenswürdigkeit für
Touristen. Und wenn man mich jetzt fragt, warum nur den Frauen Kaftane
übergeworfen werden und den Männern nicht, dann habe ich darauf leider
keine Antwort und verweise zur Klärung dieser Frage an das ägyptische
Kulturministerium.
Ich habe ziemlich viel Zeit in dem sonnigen Innenhof der Moschee
zugebracht, weil es dort einen schönen alten Brunnen mit Inschriften in
Kufi gibt, die ich entziffern wollte. Aber eigentlich war es spannender,
die Prozessionen der Touristen zu beobachten, wie sie als Kranke in die
Moschee eintraten und schließlich die Moschee wieder gesund verließen.
Bei den Inschriften am Brunnen, der aus unerfindlichen Gründen
Josephsbrunnen genannt wird, obwohl sich kein historisch oder religiös
wichtiger Joseph hier jemals aufgehalten hat, handelte es sich übrigens
um Waschvorschriften. In früheren Zeiten gingen die Gläubigen hier
einmal um den Brunnen herum und wuschen sich die auf dem jeweiligen
Schild bezeichnete Körperstelle. Erst das Gesicht und das Haar, dann die
Arme, dann die Füße, dann alle Körperöffnungen drei Mal.
Es versteht sich beinahe von selbst, dass die Touristen das nicht tun,
daher trage ich zum Beispiel immer ein Paar Socken in der Tasche, was
wenig gegen den Geruch in der Moschee, aber wenigstens gegen Fußpilz
hilft, den die Touristen aus aller Herren Länder nach Ägypten
einschleppen.
Als ich alle Inschriften in mein Buch abgeschrieben hatte und einmal ganz um
den Brunnen herumgegangen war, geschah etwas sehr Sonderbares. Ein
frischer Wind strich plötzlich durch den Innenhof, und der Wind sang im
Brunnen ein helles, fröhliches Lied. Ich war gerade wieder in den Hof
hinausgetreten, da sah ich neben dem Eingangstor den Schatten einer
nackten Frau.
Sie war groß und schlank, mit hohen runden Brüsten. Ich konnte ihr Alter
vom Brunnen aus nicht erkennen, aber sie schien noch sehr jung zu sein.
Ihre Arme hielt sie erhoben wie zum Gebet. Ich weiß nicht, wie ich es
beschreiben soll, aber die Art, wie sie ihre Arme in den Himmel
streckte, war von solcher Anmut, als würde sie tanzen, und von einer
solch großen inneren Würde, als wolle sie alle Schuld der Welt auf ihre
Schultern laden. Und ich wußte: das musste Afrika sein. Alles an ihrem
Körper schien zu lächeln, ein Lächeln, das nur aus einer Heiligkeit
stammen konnte. Ich fühlte, wie Schauer über meinen Rücken liefen,
mehrere hintereinander, kühl wie Schweiß, perlten sie von den
Schulterblättern bis in meine Beine. Eine geheimnisvolle Kraft zog mich
wie mit Magneten zum Eingangstor, meine Füße liefen, ohne dass ich ihnen
den Befehl dazu gegeben hätte.
Einen Moment später war auf der Wand nur noch der Schatten des
Kleiderständers, der zufällig ohne Kaftane dastand. Leer, nackt und
profan. Und in meinen Schläfen klopfte brennend laut die Sonne auf einem
Tamburin.
Bon Appetit
Für Martin von Arndt
In Kairo hält sich das Wetter schon seit Tagen beständig über 35
Grad. Es sind Sommerferien, alle Kinder zuhause, und auch sonst geht
keiner auf die vor Hitze weichgekochte Straße, wenn es nicht unbedingt
sein muss. Wir lassen die Rollläden geschlossen und schlafen den halben
Tag.
Zu Mittag essen wir abends um sechs, dann bleiben wir ein paar Stunden
auf und warten auf dem Balkon, ob es kühler wird. Aber es wird nicht
kühler, nicht im August; und so ist das Wetter unser einziges Thema.
Außer Essen natürlich.
Heute sind wir zu sechst und gibt es zum Abendessen: Hühnchen, gebraten
und gekocht. Rindfleisch, gekocht. Reis. Nudeln in Tomatensoße. Grünes
gedünstetes Gemüse. Mussakka mit Hackfleisch, Auberginen und Tomaten.
Baba Ghanoug, (gebackene, pürierte Auberginen). Weißes und dunkles
Landbrot. Arabischen Ruccola-Tomatensalat. Spinatsoße und Kartoffeln.
Das Besteck gibt mir keinen Hinweis darauf, in welcher Reihenfolge das
Essen zu bezwingen wäre. Vor mir liegen zwei Gabeln, zwei Löffel, ein
Messer und etwas, das ich nicht kenne. Um mich herum essen schon alle
und ich komme mir sehr dumm vor.
Im Fernseher neben dem Tisch läuft Nil-TV mit englisch untertitelten
Überschwemmungsbildern aus Norditalien, Frankreich und Deutschland.
Große Schlammassen wälzen sich die Berge hinunter, dunkelbraun quillt es
durch Schluchten hinein in die Täler.
Kleine Menschen schieben Fahrräder, deren Räder bis zur Hälfte im Wasser
versinken oder paddeln in kleinen Faltbooten durch das Inferno. Soldaten
in Uniformen schichten Sandsäcke zu Dämmen und stechen mit großen Spaten
Erde aus, um Ablaufbecken anzulegen. Politiker rufen zu Spenden auf.
Frauen weinen und halten Kinder im Arm, die schläfrig in die Kameras
blinzeln, weil sie vor lauter Wasser nicht mehr schlafen können.
Notrationen Frischwasser werden ausgegeben und Menschen mit
Hubschraubern aus überfluteten Häusern gerettet.
In meiner Heimat essen wir entweder Gemüse mit Nudeln oder Reis oder
Kartoffeln oder Brot. Das ist viel ordentlicher und damit einfacher,
weil man sich dann nicht entscheiden muss. Das heißt, derjenige, der das
Essen gekocht hat, war so freundlich, einem die Entscheidung abzunehmen.
Ich möchte sagen, dass einer der wesentlichen Punkte, die Kochen in
Europa zu einem freundlichen Akt machen, genau darin besteht. Man kann
aber genauso behaupten, dass hier in Ägypten die Freundlichkeit eben
darin besteht, dass man jeden Tag alles essen darf, was man will.
Den Anfang eines arabischen Essens habe ich noch nie verstanden. Man
muss es sich vorstellen, wie den Unterschied zwischen deutschem und
ägyptischen Straßenverkehr. Niemand wartet auf ein Zeichen, eine Geste
oder ein Wort des Gastgebers, dahingehend, dass man mit dem Essen
beginnen darf. Nein, alle fahren blind gleichzeitig auf die Kreuzung los
und warten dann ab, was passiert. Kreuzen die Löffel und reichen die
Gabeln weiter, bis endlich jeder sein Essen da hat, wo es sein soll.
Dazu hupen sie, was in menschliche Töne übersetzt recht lustig klingt.
Auf meinem Teller liegt schließlich eine Landschaft aus Nudeln und Reis,
Brot und Hühnerfleisch. Die Auberginencreme hängt wie ein trauriger
kleiner See an den Steilhängen des Rindfleischs, das auf einem kleinen
Extratellerchen liegt. Die Spinatsoße war für einen tiefen Teller
gedacht, in den ich jetzt aber den großartig nach Kreuzkümmel duftenden
Salat geschaufelt habe, deswegen muss ich sie als Suppe essen.
Ob es viele solche Überschwemmungen gäbe, fragt mich der Vater der
Familie. Ich weiß, dass er früher Ingenieur war und daher eine Antwort
von mir hören will. Aber hier ist die Hitze und da das Problem mit
meinem Essen.
Ich sage, eigentlich gäbe es nicht viele Überschwemmungen, aber
mittlerweile doch immer öfter. Vermutlich weil man in Europa dreißig
Jahre und mehr die Fließgeschwindigkeiten von Flüssen durch
Betoneinfassungen und Ausgrabungen heraufgesetzt habe. Nur langsam gehe
man wieder dazu über, Flüssen ihre natürlichen Auen zuzugestehen.
Außerdem hätten immer mehr Menschen immer näher am Fluß wohnen wollen,
ohne sich der Risiken bewußt werden zu wollen. Blindes Vertrauen auf die
Technik.
Ob es denn keine Frühwarnsysteme in Europa gäbe, fragt mich der Vater.
So wie es früher auf der Insel Elephantine Nilometer gegeben hätte, die
die jährliche Flut ankündigten. Um genau zu sein, hätte es sogar zwei
Frühwarnsysteme gegeben, weil die Flut des weißen Nils um einige Zeit
früher eintraf als die Flut des Blauen Nils und so der jeweilige
Herrscher des Niltales pünktlich die Festmähler und Feuerwerke anordnen
konnte, die beim Eintreffen der blauen Nilflut einen ganzen Monat lang
abgehalten wurden.
Dann, wenn das Nilwasser mit der Hilfe von archimedischen Schrauben
oder, später, elektrischen Pumpen auf die ausgedörrte Erde geleitet
wurde und das ganze Land aussah wie ein Schachbrett mit ausschließlich
schwarzen Feldern.
Drei Monate in denen das gesamte Niltal schwarz war wie Kohle, aber dann
ging die Saat auf, grün wie Smaragde leuchteten die Felder, um dann
schließlich, zur Zeit der Ernte, sich in rotes Gold zu verwandeln. In
Getreide, Datteln, süße Kartoffeln.
Wenn die Frühwarnsysteme am oberen Nil anschlugen und den Beginn der
Flut ankündigten und die Fellachen begannen, Rinder zu schlachten,
Hühner zu rupfen, Gemüse mit Reis zu füllen, Salat mit den eingelegten
Oliven des letzten Jahres zuzubereiten und schließlich arabische
Backwaren herzustellen, die sie mit wildem Honig und Rosenwasser süßten.
Ob ich mir diese jährliche Freude vorstellen könne. Ich denke an die
Schlammassen und an Autos, die wie bunte Segelboote durch Wasser das
schwimmen. Nein, sage ich, in Europa hat sich vermutlich noch nie jemand
über Überschwemmungen gefreut.
Der Vater nickt, er ist schon alt und hat mehr Überflutungen erlebt, als
ich vermutlich jemals sehen werde. Seine Augen sind so trübe, als stiege
der fruchtbare Nilschlamm in ihnen hoch wie hinter den Mauern des
Assuandammes, aber sein Verstand ist klar und sauber wie der Bergbach,
aus dem der Nil in Äthiopien entspringt.
Während wir noch reden, haben die anderen aufgegessen. Und sagen, bevor
sie aufstehen, um Tee zu kochen, höflich "Bon Appetit" zueinander. Der
Fernseher wird ausgeschaltet. Dann gibt es Nachtisch.
Sudanesisches Erbe
Für Mutaz Mohammed
Heute fahren wir für ein paar Stunden auf der Höhe des Sudans an der
Küste entlang. Ich weiß nichts über den Sudan. Aber ich kenne einen
Bildhauer von dort, Mutaz, von dem ich hier gerne erzählen möchte,
solange wir noch in der Nähe seines Landes sind.
Mutaz bekam vor zwei Jahren ein Aufenthaltsvisum in der Schweiz und lebt
seither zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer Containersiedlung am
Rande von Fribourg. Das Sozialamt hat ihm auch Möbel, einen Fernseher
mit Kabelanschluss und Essensmarken zugeteilt. Dann aber traten Probleme
auf. Nicht, weil Mutaz mich vielleicht in Deutschland hätte besuchen
wollen (was natürlich auch nicht erlaubt wäre), sondern weil er mehr
Möbel haben wollte. Viel mehr, als ihm zugestanden wurden.
Es ist nämlich so, dass Mutaz seine Schnitzmesser aus dem Sudan
mitgebracht hat und nun alles, was aus Holz ist, alle Betten, Schränke,
Tische, Stühle, sogar die Betschemel der Buddhisten im Flüchtlingsheim
einfach nicht in Ruhe lassen kann.
Zuhause hat Mutaz die Gesichter seiner sudanesischen Ahnen in Kokosnüsse
geschnitzt, die er einfach von den Palmen vor seinem Haus nahm. Jetzt
sitzt er den ganzen Tag in seinem Container, schaut sich europäische
Kulturprogramme im Kabelfernsehen an und schnitzt wie ein Wilder alles
nach, was er sieht.
Mutaz Hände sind sehr rau und sein Zimmer ist mittlerweile ziemlich
eng. Wenn man ihn besucht, sitzt man auf Barlachengelstühlen und schläft
auf Kollwitzmütterbetten, es gibt Rodinrasierpinsel und
Archipenkoaschenbecher, eine Picassosonne, die im Fenster hängt, aber
auch Abgelegeneres wie Rubeldämonen- und Kafkamädchenteller, was auf der
einen Seite für die Qualität des europäischen Fernsehens spricht und auf
der anderen für die Geduld von Mutaz Mitbewohnern, die ihm für ein
kleines Entgelt bereitwillig von ihren Möbelzuteilungen abgeben.
Mutaz verläßt seinen Container übrigens nie, obwohl ich sogar eine
offizielle Einladung an die Schweizer Behörden geschickt habe. Er will
einfach nicht. Noch nicht. Aber neulich hat er gesagt, dass seine
Kenntnisse von europäischem Holz vielleicht bald ausreichen, um unserer
Kultur würdig zu begegnen.
Delfine
Heute habe ich Delfine gesehen. Ich habe sie sogar gehört. Aber ich kann
nichts über sie sagen. Ich weiß, wenn man für Menschen Geschichten
schreiben will, darf man nicht kleinlich sein und muss alles mit ihnen
teilen, besonders Geheimnisse. Ich habe heute Delfine gesehen und wollte
natürlich gleich eine Geschichte schreiben für Menschen, die von den
geheimen Verbindungen zwischen Delfinen und Menschen handeln sollte.
Ich wollte zum Beispiel davon erzählen, dass es im Roten Meer einen
taubstummen Jungen gibt, der sich mit einem Delfin angefreundet hat und
dass die beiden miteinander sehr glücklich sind.
Aber ich kann nicht. So viele Menschen lieben Delfine, es gibt bestimmt
10 000 Menschen überall auf der Welt, die Phototapeten mit Delfinen in
ihrem Zimmer haben und nachts mit Delfingesängen einschlafen. Da reicht
eine Geschichte von Delfinen und Menschen gar nicht aus, um alle
zufrieden zu stellen, selbst wenn sie noch so beispielhaft ist.
Ich sitze hier und habe afrikanische Delfine gesehen und gehört und kann
nicht sagen, was das Geheimnisvolle und Großartige an ihnen ist. Ich
kann nur sagen, dass das ganze unendliche Meer heute nichts anderes war
als: Das kleine Zittern, das für Sekunden auf der Wasseroberfläche
zurückblieb, als die Delfine ein letztes Mal grüßten und einer nach dem
anderen untertauchten.
Die Tränen des Bootsmanns
Unser Schiff heißt "Le Monde" und wir haben fast alles an Bord, was es
auf dieser Erde zu kaufen gibt. Wir haben Waffen, die von Europa nach
Afrika, und Waffen, die von Amerika nach Europa geliefert werden. Wir
haben jede Menge Essen und Blumen in den Kühlcontainern, Softdrinks
unterschiedlichster Marken, Luxuslimousinen, Stacheldraht für Grenzen
und Eisenbahngleise, Tierfelle und Leder für Schuhe und Kleidung,
Bücher, und etwas, das sich nachts anhört, als spiele jemand Pingpong
und dabei riecht, als hätte dieser jemand eine gewaltige Alkoholfahne.
Vielleicht haben wir sogar blinde Passagiere an Bord, Flüchtlinge wie
meinen Freund Mutaz. Erst neulich hat man auf einem Schiff
siebenundzwanzig blinde Passagiere gefunden, die alle in einem Container
unter Deck versteckt waren. Glücklicherweise hatten die Flüchtlinge an
einen Schneidbrenner gedacht, so dass sie sich durch vier
Containerschichten nach oben durcharbeiten konnten, sonst hätte man sie
nicht entdeckt und sie wären auf der Reise nach Europa wohl gestorben.
Auf ihrem Weg nach oben kamen die Flüchtlinge an Schrimps vorbei, an
einem Container mit Designer-Jeans und einem mit französischem Rotwein.
Wiederum glücklicherweise nicht an den Waffen, das hätte die Situation
noch verkompliziert, und kompliziert war sie auch so. Kein Land wollte
die blinden Passagiere aufnehmen und so blieben sie über ein Jahr auf
dem Schiff.
Es ist ziemlich gefährlich, für ein Schiff mit nur 23 Leuten Besatzung
27 blinde Passagiere gegen sich zu haben. Passagiere, die sich an
französischen Rotwein und asiatische Schrimps gewöhnt haben, so dass sie jeden Tag zum Mittag- und Abendessen nur Meeresfrüchte essen und
Baujolais trinken und dann ein Nickerchen in einer Luxuslimousine machen wollen.
Gegen eine enorme Summe aus dem Flüchtlingsfonds der vereinigten
Reedergesellschaften wurden die blinden Passagiere schließlich von
Italien aufgenommen. Es war höchste Zeit, denn die Vorräte und die
Geduld auf beiden Seiten gingen zur Neige.
Wenn ich abends an dem betrunkenen Ping-Pong-Container vorbeigehe, ist
es keine angenehme Vorstellung, dass dort Menschen sein könnten. Man darf gar nicht daran denken.
Vielleicht haben wir blinde Passagiere, die irgendwann gegen uns
meutern, auf jeden Fall aber haben wir viele reizende Chemikalien an
Bord. Und es ist gar nicht gesagt, dass die Tränen des russischen
Bootsmannes, die mir so große Sorgen bereiten, nur vom Heimweh nach
Europa kommen, wie er immer behauptet.
Erzähl mir was von Afrika
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 3-9809336-2-8
14 Autoren aus Deutschland und Österreich zeigen
den geheimnisvollen und faszinierenden Kontinent
aus unterschiedlichen Perspektiven.
Von Ägypten bis Südafrika, von Guinea bis Kenia ...
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