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Kurzgeschichte Afrika Kurzgeschichtenwettbewerb Afrika Kurzgeschichten

Leonore

©  Franz Nikolaus Bäcker


Er beobachtete sie schon eine ganze Weile in ihrem unruhigen Schlaf. Ihre Mundwinkel zuckten merklich und ihre Augen rollten hinter verschlossenen Lidern. Der Atem ging schwer und die Flügel ihrer feinen schmalen Nase bebten. Sie träumte von einer langen Allee mit Kastanienbäumen und die helle Kinderstimme rief aufgeregt nach ihr und lachte. Als sie hinter den dicken Stämmen niemanden finden konnte, rief die Stimme: "Ich bin hier oben, du musst mich doch sehen". Sie durchsuchte angestrengt die mächtigen, mit sattem Grün verhängten Baumkronen, und dieses Unterfangen erschien ihr aussichtslos. Sie konnte doch nicht jeden Baum besteigen. Noch dazu, wenn sie glaubte, der Stimme nahe zu sein, diese auf einmal wieder vom anderen Ende der Allee anhob. Von der Angst des Versagens, des Scheiterns gequält, lief sie gehetzt und der Verzweiflung nahe die Baumzeile auf und ab ...
Als die Maschine etwas unsanft auf dem staubigen Rollfeld aufsetzte, erwachte sie erschrocken und fühlte momentan klaustrophobische Anwandlungen. Ihr Herzschlag raste und Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Richard nahm ihre in Abwehrhaltung erhobenen Hände, drückte sie sanft auf ihre Oberschenkel und versuchte sie zu beruhigen: "Schsch, Darling, alles ist gut, wir sind gerade gelandet". Lauter Beifall ging durch den Passagierraum und zollte dem Piloten Tribut für eine gelungene Landung. Langsam realisierte Marlene ihre Umgebung - den Sitz mit dem dunkelfarbenen, abgewohnten Polyesterbezug, die schwitzende Glatze des vorderen Fluggastes, der graue Klapptisch, eingerollte Zeitschriften in der Falttasche, ein eingeklemmter Trinkbecher, ihre blaue Schlafdecke und der Sicherheitsgurt darunter. "Ach, Richard, ich habe schon wieder ...", seufzte die Schlaftrunkene. "Ich weiß, du hast schon wieder diesen Traum gehabt. Ich hätte dich wecken sollen. Aber denk' nicht daran, sieh lieber aus dem Fenster, wir sind endlich da", seine Hand ruhte noch immer auf der ihren. Eine sichtlich erleichterte Stewardess eilte hastig den Mittelgang nach hinten. Ein Kaffeefleck prangte unterhalb ihrer linken Schulter an ihrer weißen Bluse und nahm sich aus wie eine ovale Brosche. Unter dem Gesäusel der Verabschiedung über die Lautsprecheranlage sah Marlene erwartungsvoll aus dem Kabinenfenster - und wurde enttäuscht. Ein Flughafen wie alle Flughäfen dieser Welt - grau und kahl, umringt von verschieden hohen Schachtelbauten, parkende Flugzeuge, Gepäcktransporter, fahrende Gangways, Tankwägen, beflaggte Pistenautos und Omnibusse. Nur, dass all diese Fahrzeuge von Schwarzen gelenkt wurden.
Den Beerweins ging es so gut, dass es schon wieder schlecht war. Beide 36 Jahre alt. Er, Manager einer florierenden Softwarefirma. Sie, jüngste Buchhaltungsdirektorin einer großen öffentlichen Bank. Sie konnten sich so ziemlich alles leisten und hatten auch schon fast alles - ein großes Haus mit einem schönen Wintergarten und einem Schwimmteich davor, zwei Hunde, zwei Autos, ein kleines Appartement im Zentrum eines herrlichen Skigebiets, drei oder mehr Urlaube im Jahr und eine Putzfrau. Wie gesagt, fast alles - es fehlte ihnen eigentlich "nur" innere Zufriedenheit und ein Kindersegen. Mit der Zufriedenheit war das so eine Sache. Oft diskutierten sie über die Maxime des Lebens. Sollte man je zufrieden sein - mit seinem Leben, mit sich selbst? Bedeutete das nicht Stillstand? Wurde man dann nicht überholt? Und dem Vergleich mit anderen sollte man standhalten können. Hatte man nicht immer einen Schritt voraus zu sein? Was für die Marktwirtschaft galt, sollte auch ihre Lebensphilosophie sein. Und der Habitus des "Auch-haben-wollens" saß wie ein Stachel tief in ihrem Fleisch und beeinträchtigte ihr Verhalten. Banal ausgedrückt: Hatte der Nachbar drei Gartenzwerge in seinem Vorgarten, so stellten sie sich vier oder fünf viel schönere auf. Bekam Frau Nachbarin einen Polarfuchsmantel zum Geburtstag, so wünschte sich Marlene einen Chinchilla von ihrem Gatten. Aber bald konnten sich die Beerweins über nichts mehr wirklich freuen. Sie waren ausgelaugt, aber immer auf der Suche. Sie rieben sich gegenseitig auf und eines Tages stand das Ehepaar in einer Sackgasse - knapp vor einer Scheidung. Richard verbrachte mehr Zeit in seiner Firma und mit Golffreunden. Marlene gab sich ihren Kaufräuschen hin und fand Abwechslung bei einem virilen Abteilungskollegen. Sie hatten nur mehr gemeinsamen Besitz, aber keine Gemeinsamkeiten. Auch wurde Disharmonie durch den unerfüllten Kindeswunsch hervorgerufen. Verschiedene Hormonbehandlungen und zwei Einpflanzungen brachten keinen Erfolg, sondern nur immense Unkosten. Bis beide einer dumpfe Resignation verfielen. Aber sie konnten sich nicht damit abfinden, oder wollten es dabei belassen (sie waren es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen, doch diesmal mussten sie sich einem stärkeren Willen als den ihren beugen - dem unbändigen Willen der Natur). Gegenseitige Schuldzuweisungen riefen Streit und Depression hervor. Er ließ sich in der Bar vollaufen und sie zerschmiss teures Porzellan vor Wut und Enttäuschung. Als sie an diesem toten Punkt angelangt waren, setzte sich doch noch eine mit dem Rücken zur Wand stehende Vernunft durch. Das Paar konsultierte einen Eheberater und begann im ehelichen Ruinenfeld aufzuräumen. Altlasten wurden entsorgt, Verzeihungen ausgesprochen, Problemlösungen durchgekaut und neue Perspektiven geschaffen. Diese Reise nach Südafrika sollte Zerstreuung bringen und sie wieder einander näher bringen. Die Pforten einer gemeinsamen Zukunft sollten wieder aufgestoßen werden.
Das Balalaika-Hotel in Sandton, einem sauberen und noblen Vorort von Johannesburg, war umringt von hohen Mauern. Beim Einchecken wurde das Ehepaar von einem groß gewachsenen Farbigen in schwarzem Frack und Zylinder aufmerksam gemacht, dass der Mietwagen, ein weißer Golf, am hinteren Hotelparkplatz abgestellt war. Der Fahrzeugschlüssel wurde Richard ausgehändigt, der diesen aber aufgrund der Linksverkehrkenntnisse ihres halbjährigen Aufenthalts in England gleich an Marlene weitergab. Im Hotelgarten blühten prächtige Oleander- und Zwergrosensträucher. Der kleine Swimmingpool war nicht sehr frequentiert, denn ein böiger Wind vergällte einem die Lust am Sonnenbad. Nachdem sie sich in ihrem netten Appartement eingerichtet und erfrischt hatten, gingen sie auf einen Erkundungsspaziergang in Hotelnähe. Am sauberen Hauptplatz wurde ein Flohmarkt abgehalten. Hier gab es allerhand Holzschnitzereien und Souvenirs für Touristen zu erstehen. Kriegermasken aus dunklem Ebenholz, kleine Buschmännerfiguren, Schachspiele aus Speckstein, kunstvoll verzierte Spazierstöcke und geflochtene Lederpeitschen. Marlene nahm sich vor, ein paar schöne Stücke vor ihrer Abreise einzukaufen. Ein Straßenmusikant sang das wundervoll traurig stimmende Lied von "Georgia" und spielte auf einer verstärkten Gitarre dazu. Zwei dicke Mammis in bunten Kleidern mit Haarhäubchen fegten den Platz und unterhielten sich dabei lautstark. Richard musste sich, obwohl es ihm unangenehm war, mit den zwei Originalen fotografieren lassen. Marlene bestand darauf. Vor einem Monat noch hätte ihr Vorhaben einen Wutausbruch in ihm hervorgerufen, jetzt stand er wie ein Lämmchen zwischen den grinsenden Frauen, inmitten ihrer Leibesfülle verschwindend und machte gute Miene zum bösen Spiel. Langsam kam Urlaubsstimmung auf, der Reisestress war abgeklungen und sie freuten sich schon auf den morgigen Trip durch den Transvaal, die nördlichste Provinz Südafrikas. Hand in Hand schlenderte das Pärchen an Steakhäusern und Restaurants aus kulinarisch führenden Ländern der Welt vorbei. Ein gut bestücktes Weingeschäft präsentierte sich nach Richards Geschmack. Berühmte Weinorte aus der Kapgegend wie Paarl, Stellenbosch, Wellington und Sorten wie Stehen, Cabernet Sauvignon und Pinotage machten ihm den Gaumen wässrig. Hier konnte er seinen Kellervorrat aufbessern. Alles präsentierte sich wie in der westlichen zivilisierten Welt zu Hause. Nur eine Kleinigkeit war anders - die sich bei genauerem Hinsehen als beunruhigende Bedrohung entpuppte: Vor Lokalen, Geschäften, Kinos und öffentlichen Gebäuden waren überall Wachposten aufgestellt. Ausgerüstet mit Walkie-Talkie und grimmig dreinblickend, beobachteten sie aufmerksam die Geschehnisse in ihrer Umgebung. Mauern mit Stacheldraht oder einzementierten Glasbruchstücken darüber zeugten von Angst und Unsicherheit. Zu viele Überfälle von bösen schwarzen Männern nach dem Zusammenbruch der Apartheidsregierung zerstörten Ordnung und Vertrauen. Weiße Geschäftsleute und Landbesitzer mussten ihr Hab und Gut in diesen Zeiten strengstens unter Schutz stellen, um nicht beraubt und massakriert zu werden. Man las in Zeitungen über Gutsbesitzer, die ihre Farmen zu regelrechten Wehranlagen ausbauten, oder dass man Johannesburg, die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate der Welt, auf keinen Fall bei Eintritt der Dunkelheit ungeschützt betreten durfte. Diese Meldungen wirkten sich natürlich nicht sehr förderlich auf den Tourismus aus. Richard kamen die Worte des brasilianischen Schriftstellers Darcy Ribeiro in den Sinn, der seine Romanfigur Philogonio de Castro Maya sagen lässt: "Der Neger kennt keinen Ehrgeiz und geht auch ungern Verpflichtungen ein. Am meisten hasst er, einen Patron über sich zu wissen und Arbeitsstunden einhalten zu müssen." Diesem stimmte Richard, wenn nicht ausnahmslos, so doch in seiner Wesentlichkeit, zu und war der Meinung, dass die Wirtschaft, ohne Leitung von weißen Fachkräften zum Zusammenbruch verurteilt war, weil es mehr der Art und des Gemüts der schwarzen Bevölkerung entspreche, von der Hand in den Mund zu leben, als sich um künftige Zeiten zu sorgen. Jetzt würden sie sich alles nehmen, doch was dann, wenn nichts mehr zu nehmen da war? Als hätten sie Hoffnung und Glauben an eine Zukunft nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Unterjochung verloren. Ein Volk, das verlernt hat, Perspektiven zu schaffen und Vertrauen in Eigenständigkeit zu legen.
Marlene lag mit offenen Augen im Bett und lauschte den Schlafgeräuschen ihres Mannes. Ein leises Atmen begleitet von zeitweiligem Zähneknirschen. Sie lächelte über diese "Managerkrankheit". Businessdruck, der einem noch im Schlaf verfolgte. Sein Arm ruhte auf ihrer erhitzten Brust und seine Finger zuckten leicht. Was er wohl träumen würde? Der Schlaf hatte etwas Friedvolles und Wiedergutmachendes an sich. Mutterinstinkte erwachten in ihr, wenn er so verwundbar und bloßgelegt wie ein Kind neben ihr schlief. Der Sex war entspannend und nett gewesen. Nett - dieser Ausdruck sagte im Grunde nichts aus, schmeckte und roch nach nichts. Eigenschaftslos und ohne Seele schwebte er unbeachtet im Raum der Adjektive. Warum konnte sie den Sex mit ihrem Mann nicht als aufregend, gewaltig, umwerfend, großartig definieren? Einfach nur nett?! Sie fragte sich, ob es jemals anders war. Anfangs war es interessant weil neu, aber superlativisch? Eine Vernunftehe von Verwandten und Bekannten hoch gelobt, von einer Wochenillustrierten mit hervorragenden Prognosen für die Zukunft eingeschätzt. Aber keine intensive Gefühlsbindung. Oder war sie jetzt ungerecht und konnte sich einfach an Innigkeiten nicht mehr erinnern, weil es schon so lange zurücklag? Eine gute Freundin verbrannte sich mutig den Mund und prophezeite ihr die Falschheit und Aussichtslosigkeit dieser Entscheidung. Sie meinte, dass sie nie im Leben zusammenpassen würden. Aber er ist doch so ein guter und netter Mann, der all ihre Launen und Eigenheiten geduldig ertrug. Gut und nett! Die Affäre mit ihrem Arbeitskollegen war eine sich rasant dem Irrsinn nähernde Sache. Ausgehend von Lust und Gier wanderte der Sex von den errogenen Zonen weiter bis ins Herz, verwandelte sich dort in tiefe Empfindung und griff allmählich das Gehirn an. Gedanken lösten Gefühlswallungen aus, die sie nie für möglich gehalten hätte. Trennungsschmerz schon nach Minuten, ergab Sehnsucht und Niedergeschlagenheit. Sie hatten sich zum Fressen gern und wollten sich gegenseitig die Seele aus dem Leib saugen. Diese Fixiertheit und Ausstrahlung aufeinander und die Übereinstimmung der Chemie endete in einer noch nicht da gewesenen Intensität der Beziehung, an der letztlich aber beide zerbrachen. Er, weil er nicht wirklich daran glaubte, sie besitzen zu können und sie, weil das Gewissen wie mit Nadeln auf sie einstach. Ihr Mut war zu klein und das Mitleid zu groß. Sie konnte nicht so en passant alles abwerfen und hinter sich lassen, ein gewohntes Leben nach einem Jahrzehnt aufgeben. Einen, wenn auch plätschernden, doch stetig fließenden Bach gegen einen Wasserfall eintauschen, der über sie mit beängstigender Heftigkeit einbrach. Aber wird nicht jeder Wasserfall irgendwann einmal wieder zum Bächlein? Dies alles hätte zuviel Kraft und Überwindung gekostet, die sie sich nicht zutraute. Sie ließ ihren subalternen Kollegen, ohne sein Wissen, dass diese Aktion von ihr ausging, an eine andere Dienststelle versetzen und fand ihn mit einer beachtlichen Gehaltserhöhung ab. Aus den Augen, aus dem Sinn. Klingt einfach, war es aber nicht. Hätte sie sich anders entschieden, hätten sie dafür vielleicht einmal in der Hölle schmoren müssen. Nun hatte sie in zweiflerischen Augenblicken das Gefühl, ein Leben lang beständig zu garen.
Als sie die Auffahrt zur Autobahn Richtung Pretoria verpassten, und Richard nur mehr hektisch den Stadtplan drehte und wendete, nebenbei versuchte einen vorbeizischenden Stadtnamen auf der Karte zu erkennen, kamen sie über Schotterstraßen mit Löchern so groß, in die man einen ganze Autoreifen darin versenken hätte können, in ein verwahrlostes Stadtviertel. Bei einem Bahnübergang hielten sie an. Die Morgensonne zog langsam auf und sendete ihre noch spärlichen goldenen Lichtspeere über die Landschaft, doch plötzlich wurde es tiefschwarz um sie herum. Schwarz wie die dunkelste Nacht im Albtraum geplagten Schlaf. Von überall her kamen schäbig gekleidete Schwarze auf den Wagen zu und umringten ihn. Es war wie eine Horrorszene dieser Zombie-Filme in den Achtzigern. Geistesgegenwärtig drückte Marlene den Sicherungsknopf der Wagentür und riet Richard dasselbe zu tun. Schreckensmeldungen über Carjacking, Mord und Totschlag auf Autobahnen und Landstraßen hinterließen Furcht und Unsicherheit. Angespannt und erwartungsvoll blickte das Paar in die Gesichter der Menschenmasse. Doch keine Gewalt oder Aggression richtete sich gegen die Touristen - nur verschlafene, verkaterte, müde und angewidert vom Sonnenlicht, vorbeiziehende Menschen auf ihrem morgendlichen Weg zum Arbeitsplatz. Als der Bahnübergang freigegeben wurde, setzten sie erleichtert ihren Weg fort und Marlene plapperte aufgeregt und überdreht, noch immer geschockt, und Richard drehte das Autoradio an. Auf der N4, der Autobahn nach Pretoria hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Richard holte den Proviantsack vom Rücksitz und bereitete das Frühstück zu: frische Grahamwecken, Streichkäse mit Bacon-Geschmack und Cheedah Hartkäse, dazu Buttermilch. Marlene war eine gute Autofahrerin und sie tat es gerne - was Richard nicht von sich behaupten konnte. Regen setzte ein. Die Autobahn hatte meist nur einen Fahrstreifen und einen Pannenstreifen. Machte man einem überholenden Auto Platz, bedankte sich der Lenker nach dem Überholmanöver mit einem Signal der Alarmblinkanlage. Der Überholte grüßte den Davonziehenden wiederum durch Aufblenden des Fernlichts. Höfliche Spielchen unter Weißen im Straßenverkehr in einem Land der Intoleranz und Diskriminierung. 25 km nach Belfast bogen sie auf die R 36 und fuhren auf schlängelnden Höhenstraßen ins Transvaalgebirge. Alles war saftig grün, obwohl es auf der südlichen Halbkugel zu dieser Zeit Herbst war. Wälder zierten gesund und kraftstrotzend in Nebelschwaden getauchte Berghänge, die Luft roch frisch, wie eben von einer Photosynthesefabrik ausgeliefert. In Lydenburg, einem kleinen Provinzstädtchen, hielten sie zu einem Tankstop und streckten ihre verspannten Glieder. Ein Hüne von einem Tankwart grüßte freundlich und hantierte geschickt mit dem Regular-Patrol-Stutzen, der in seinen riesigen Pranken fast verschwand. Ein anderer schwarzer Angestellter (es schien, als würden in Südafrika nur Schwarze etwas arbeiten) schlurfte langsam herbei und reinigte mit zerschlissenem Putzlappen und einem süffisanten Grinsen die Windschutzscheibe. Da es aber stark regnete, hielt Richard diese Aktion für äußerst sinnlos. Er machte Handzeichen, deutete auf den Himmel und auf die Scheibe: "It doesn't make any sense!" Der Oldboy zuckte nur lethargisch mit den Schultern und setzte (noch immer grinsend, als würde er diese Maske erst bei Dienstende abnehmen) seine Tätigkeit fort. Als sie wieder im Auto saßen, zeigte sich Marlene angenehm überrascht, über den günstigen Benzinpreis und hielt dies für die Ursache, in diesem Land noch keine Radfahrer bemerkt zu haben. Sie bogen auf die R37 nach Sabie ab und durchfuhren ein herrliches Landschaftsschutzgebiet mit Serpentinenstraßen und einer im Reiseführer als einmalig angepriesenen Fernsicht. Die aber keine war, da es in Strömen regnete und ein Vorhang aus Dunst und Nebel sich über sie ausbreitete. Vorbei am Mondi Indigenous über den Long Tom Pass ging es in die ehemalige Goldgräberstadt "Pilgrim's Rest", die idyllisch in einen Berghang gebaut war und so belassen wurde, wie zu Ende des 19. Jahrhunderts. Ein alter Greißlerladen fungierte als Museum und zeigte wie Familien anno dazumal gewohnt und gelebt haben. In einer alten Bäckerei wurden nun Souvenirs angeboten. Zapfsäulen einer kleinen Tankstelle muteten sich wie Spielzeug an. Goldgrabungsstätten mit ihren plumpen schweren Werkzeugen legten dar, welche Knochenarbeit die Suche nach dem edlen Metall abforderte. In einem alten Coffee-Shop schlürften sie Filterkaffee und aßen köstliche Schmerteigkrapfen, die ihnen eine Big-Mammi in leuchtend orangefarbiger Schürze freundlich servierte. Nach Graskop bogen Sie auf die R532 und Richard schwärmte von dem vom Blyde River ausgewaschenen 600 m tiefen Canyon. Aber der Regen machte wiederum einen Strich durch die Rechnung. "God's Window" war mit grauen Wolken verhangen und ließ keine Aussicht auf eine schöne Aussicht. Bei den "Berlin Wasserfällen" hielten sie kurz an, um den Wettergott zu verwünschen. Richard stampfte mit seinen Füßen - entweder vor Wut, oder er wollte einen Sonnentanz versuchen. Marlene tat es leid, ihren Mann enttäuscht sehen zu müssen. Radio Swazi und seine stimmungsvolle rhythmische afrikanische Musik erheiterte den Gemütszustand und als sie an einem Ort ankamen, der sich "Hazyview" nannte, prusteten beide aus vollen Kehlen los und lachten Tränen über diese treffende Bezeichnung. Es war vier Uhr nachmittags und bis zum Kruger-Gate waren es noch 50 km. Da sie den Hunger bereits übergangen hatten, beschlossen sie durchzufahren, um eine Bleibe direkt im Wildtiernationalpark zu suchen. Beim Paul Kruger-Gate wurden sie informiert, dass in zwei Camps eventuell noch Restplätze vorhanden wären, diese aber bis zur Schließzeit, um 17.30 Uhr, erreicht sein mussten, da jeglicher Verkehr ab dieser Zeit im Park strengstens untersagt war. Mit Affentempo passierten sie das 18.200 km² große Naturreservat, welches im Jahre 1898 vom Präsidenten der südafrikanischen Republik gegründet worden war. Es dauerte nicht lange, und sie erblickten auch schon ihre ersten in freier Wildbahn lebenden Tiere. Antilopen kreuzten gemächlich ihren Weg, ohne das Fahrzeug auch nur mit einem Seitenblick zu quittieren. Beide freuten sich wie kleine Kinder, die ein neues Bilderbuch geschenkt bekamen. Da es aber pressierte, konnten sie nicht Halt machen und diesen spannenden Anblick länger genießen. "Nur Geduld, mein Schatz. Wir werden noch eine Menge zu sehen bekommen", beruhigte Richard seine Frau, deren Augen groß und weit aufgerissen das die Straße säumende Buschwerk nach neuen Attraktionen absuchte. Beide hatten sich ausgetretene Pfade, Sand- oder bestenfalls Schotterstraßen im Wildpark vorgestellt. Aber die Hauptstraßen waren alle asphaltiert und in gutem Zustand. Kein Getier ließ sich mehr bis zum Buschcamp Skukuza erblicken. Als zwei weitere Mietwägen sich vor der Rezeption einparkten, sprang Richard schnell aus dem Fahrzeug, hastete in das Ankunftsgebäude und ergatterte noch eine Unterkunft mit Doppelbett. Ohne Schlüssel, nur mit einem Lageplan, was beide verblüffte, machten sie sich auf die Suche. An der markierten Stelle angekommen, wussten sie warum. Es war keine gemauerte Behausung, sondern ein auf solidem Betonfundament aufgestelltes Zelt mit Vordach und einer kleinen Sitzgelegenheit davor. Die starken Eisenverstrebungen und Ketten, anstatt Spannseilen, machten das Zelt zu einer widerstandsfähigen Konstruktion. An der Holztür, die weit offen stand, war ein Riegelschloss angebracht. Innen standen zwei Betten mit einem Nachtkästchen dazwischen, ein Metallspind, ein Ventilator und ein Kühlschrank. Als erstes und Zeichen seines guten Willens, schob er die beiden Betten zusammen, was Marlene mit kokettem Lächeln goutierte. Im nahe gelegenen Restaurant mit angeschlossenem Shop besorgte Richard eine Flasche "Fleur du Cap", während seine Gattin sich mit Hab und Gut einrichtete. Als die beiden dann entspannt bei entkorktem Wein vor dem Zelt saßen und der Kakophonie aus Hyänenrufen, Vogellauten und anderen nicht identifizierten Tierstimmen lauschten, war die Idylle perfekt. Dann und wann war auch vom nahen Sabie River nasales Flusspferdgrunzen zu vernehmen, was sich lustig und frivol anmutete. Marlene blickte ihrem Gegenüber tief in die Augen, suchte nach längst vergangenen Augenblicken, als alles noch unbeschwert und im Reinen war. Zumindest schien es damals so. "Glaubst du, dass dieser verzweifelte Wunsch nach einem Kind und diese vielen Fehlversuche unsere Beziehung ruiniert haben, oder hatten wir schon von Anfang an keinen guten Start?" Richard hielt sein Glas gegen das Kerzenlicht und prüfte Färbung und Schwebepartikel. "Vielleicht einen zu guten Start. Alles was wir begehrten trat ein - und als uns einmal ein Wunsch nicht erfüllt wurde, brachen wir daran. Wir sind es nicht gewohnt, mit Niederlagen umgehen zu können. Gott sei Dank, sind wir lernfähig und mit Besinnung und Liebe finden wir wieder zueinander". Er stellte das Glas nieder und nahm ihre Hand. "Ich will dich nicht verlieren und ich glaube an uns - mit oder ohne Kind", flüsterte er beschwörend. "Du meinst, wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben?", fragte Marlene gerührt. "Nie und nimmer!" Er zog sie auf seinen Schoß und sie küssten sich lang und innig. In dieser Nacht gaben sie sich Verlorenes wieder. Zärtlichkeit, Bemühung, Aufmerksamkeit, Hingabe - alles, was wahre Liebe ausmacht. Eine Glut, die wieder zu lodern begann. Man erfreut sich und wärmt sich daran, ohne zu fragen, ob noch genügend Brennholz vorhanden ist. Solche Nächte vermögen Schwache zu kräftigen, Vergessene zu erinnern, Erfrorene zum Leben zu erwecken. Sie erwachten, geweckt von einer animalischen Sinfonie aus Grillengezirpe und Vogelgezwitscher, so wie sie davon in den Schlaf getragen wurden. Marlene, das Laken wie eine Tunika umgelegt, schlug die Zelttür zur Seite und räkelte sich im Strahl der Morgensonne. Richard glaubte, mit verschlafenem Blick eine Epiphanie der römischen Liebesgöttin Venus wahrzunehmen. Dabei hätte er diese Frau bald für immer verloren. Warum war es nur so weit gekommen? Und die Antwort entsprang der linken Hemisphäre seines Großhirns genau in dem Moment, als sich Marlene über ihn beugte und leise in sein Ohr flüsterte: "Beweise mir, dass du mich heute Morgen noch genauso liebst, wie gestern Abend." Das war es - Liebe soll keine Beweise brauchen! Der Mensch bezweifelt alles und beansprucht Beweise. Also kann Liebe auch kein Gottesgeschenk sein, sondern ist eine wunderbare Eigenart der menschlichen Rasse. Wenigstens darauf kann der Mensch stolz sein. Sanft zog er sie auf sich, und sie küsste ihm den Schlaf von den Augen.
Nach einem üppigen Frühstück, bestehend aus "Toast and Salad", und "Fish and Chips", unter einem nach allen Seiten offenen Rondeau des Restaurants, erforschten sie das Camp. Die Garten- und Rasenanlagen waren ordentlich gepflegt. Wege waren liebevoll mit dunklen Granitsteinen umsäumt. Sie sahen weiße Wildhüter in hellbraunen Uniformen mit kurzen Hosen und sonnenverbrannten Knien, schwarzes Personal in weißen Hemden und grünen Jacketts, Frauen mit grünen Arbeitsschürzen und grünen "Duschhäubchen". Alle waren freundlich, grüßten und zeigten lächelnd ihre makellosen Zahnreihen. Hinter einem Schild "For reserved guests only" breiteten sich große Bungalows mit spitzen Strohdächern auf englischem Rasen aus. Ausladende Terrassen mit Blick auf den Sabie verlockten sie zu unbefugtem Betreten. Keine Menschenseele war zu sehen nur Natur, so wie Gott sie geschaffen hat. Als sie das Bungalowgebiet verlassen und zum Weg zurückkehren wollten, stand plötzlich ein Warzenschwein mit Furcht einflößenden Hauern vor ihnen. Richard zog Marlene schnell hinter eine Balustrade zurück und sie verharrten erschrocken mit pochendem Herzen. Doch es rührte sich nichts. Richard spähte hervor. Mit zusammengekniffenem Blick observierte er jede Regung in den umliegenden Büschen und halbhohen Gräsern. Die Luft war rein und das Wildschwein verschwunden. "Werden hier wohl anstatt Wachhunden gehalten", witzelte er erleichtert, doch Marlene stand der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Hastig in gebückter Haltung entfernten sie sich und sie umklammerte seine Hand wie einen Rettungsring auf hoher See. Auf dem Rückweg ragte eine alte Dampflokomotive hinter wild verwachsenem Dornengebüsch hervor. Von neuerlicher Abenteuerlust gepackt traten sie sich einen Pfad dorthin. Eine uralte Lok mit zwei Waggons stand kläglich im ramponierten Geleise. Abgebrannt, russschwarz und teildemontiert. Alle Teile die nicht niet- und nagelfest waren, dienten wahrscheinlich bereits als Blechdach, Ofenrohre oder sind zum Kilopreis verscherbelt worden. "Schade darum, die würde nach einer Restauration eine historische Attraktion abgeben", konstatierte Marlene und als sie wieder den Rückweg einschlagen wollte, stand dieses Untier von Warzenschwein abermals mit blanken Hauern drohend im Weg, fixierte die beiden und grunzte verächtlich. Nun, hieß es schnell über die Waggons zu klettern und sich schleunigst auf der anderen Seite der verwahrlosten Abstellgeleise, die sich wie zwei rachitische Finger in der Landschaft streckten, aus dem Staub zu machen. Adrenalinschübe sorgten für die Beschleunigung ihrer Schritte. Schweißflecken breiteten sich auf ihren T-Shirts aus wie Tintenflecken auf einem Löschblatt. Aber das Schwein hatte anscheinend keine Lust, in der prallen Vormittagssonne unnütze Verfolgungsjagden aufzunehmen. Erschöpft und zugleich ausgelassen lachend, den Schrecken heil überstanden zu haben, kamen sie zum Zelt und Richard fragte sich, ob dieses Warzenschwein wirklich eine Gefahr darstellte.
Als sie das Haupttor von Skukuza im Mietwagen durchfuhren und der Steppe entgegen schlingerten, philosophierte Marlene überschwänglich von ihrer Liebe zur Sonne und diese nicht nur weil sie als astrologisches Feuerzeichen geboren war: "Ursprung und Ende allen Lebens. Jede große Kultur in den verschiedenen Epochen unter verschiedenen Völkern hat den Sonnegott verehrt. Ob Helios, Re oder Amun. Die Hottentotten, die sich selbst Khoikhoi - Menschen der Menschen - nennen, wissen Geschichten vom Sonnenwidder SoreGus zu erzählen. Und auch die Swahili feiern ihren Neujahrestag am 21. März, wenn die Sonne in das Tierkreiszeichen des Widders eintritt. Diesen Tag nennen sie Nairuzi, was soviel wie Neues Licht bedeutet. Ach Richard, ich möchte mit den Affen tanzen, auf Elefanten reiten, mit Löwen balgen ..." Richard betrachtete sie vergnügt von der Seite und stichelte: "Ich würde meinen, du leidest unter einem Sinnesrausch. Ein Endorphinschock, der sich nachhaltigst auf das Gemüt schlägt." Ein Großrudel von Pavianen hielt die Straße wie Wegelagerer in Beschlag. Das mächtige dominante Männchen saß gelangweilt am Straßenrand, während Affenkinder um ihn herum turnten, Purzelbäume schlugen und allerlei Unfug trieben. Langsam näherten sich einige Tiere dem Auto. Teils neugierig, teils in Erwartung, einen Happen zu erhalten. Marlene war vor allem von den schamlos herunter baumelnden fleischroten Penissen der Pavianmännchen belustigt und fasziniert. "Typisch Frau!", murrte Richard gespielt. "Ich begeistere mich mehr für das soziale Verhalten. Sieh dir nur diese gegenseitigen Entlausungsaktionen an und diese strenge Hierarchie, die hier herrscht. Ich frage mich, ob diese Affen nicht zivilisierter sind als wir Menschen." Nach eingehendem Primatenstudium lenkte er das Gefährt weiter nach Tshokwane, um dann entlang der Grenze zu Mosambique in Richtung Komatipoort zu gelangen. Ein Rudel Impalas äste friedlich unter einem großen Affenbrotbaum. Ihre Stummelschwänze huschten nervös über die schöne Fellzeichnung. Marlenes Fotoapparat lief heiß. Unter azurblauem Himmel sogen ihre Nasen gierig den Geruch nach Wildnis, Freiheit und Abenteuer ein. Zwei große schwarze Donnervögel stelzten über die Straße. Hässlich zerrupfte Vögel mit überdimensionalen roten Schnäbeln. Marlene bezeichnete sie als Ölpestvögel. Nachdem sie einige Zebras bei ihrem gemächlichen Trab durch die Savanne beobachteten, musste Richard auslenken, um nicht mit einem riesengroßen Haufen Elefantenscheiße zu kollidieren. Slalomfahrt war angesagt. "Kannst du dir vorstellen, was diese Viecher verdrücken müssen, um so etwas zu hinterlassen?", grinste Marlene fragend und fotografierte. Mäuse, wieselartige Nager und kleine Vögel versammelten sich an diesen übel riechenden Monumenten und pickten allerlei Nahrhaftes heraus. Bei einer Brücke über den Sabie machten sie Rast und nahmen die Jause ein. Bei hinunter gekurbeltem Seitenfenster, den Blick in die Ferne schweifend, konnten sogar die bereits brühwarmen Getränke dem Vergnügen keinen Abbruch tun. Auch die sengende Sonne, die erbarmungslos auf die rote Erde Afrikas nieder brannte, beeinträchtigte keinesfalls die Stimmung der beiden Safarigänger. Etwa einen Kilometer von ihrem Standort entfernt, sah Richard eine Schar Geier über einem großen Baum kreisen und deutete in die Richtung: "Schau, Liebling, sogar die Geier halten Mahlzeit. Vielleicht haben Löwen einen Bissen übrig gelassen. Wir könnten mal nachsehen." Marlene war es egal, wohin er mit ihr fahren würde, denn die Natur hier war in jeder Himmelsrichtung eine Offenbarung. Eine Gruppe von Grünmeerkatzen näherte sich dem Gefährt und beide warfen den bettelnden Tieren Reste ihres Reiseproviants zu, bis so ein Frechdachs an der Autotür hochsprang und Auge in Auge der erschrockenen Marlene gegenüber saß. Richard konnte sich das Lachen nicht verkneifen, denn die Szenerie präsentierte sich insofern komisch, als beide, Affe und Nachfahre verwundert den Gegenüber anstarrten, als würden sie in einen Spiegel sehen. Da diese Vertraulichkeit Marlene nun doch etwas zu weit ging, brauste ihr Mann los und hinterließ die Menge in einer Staubwolke. "Afrika, die Wiege der Menschheit!", zitierte Richard bedeutungsschwanger. "Glaubst du, dass hier das Paradies war?" "Möglicherweise hat hier alles seinen Anfang genommen", antwortete Marlene und blickte angestrengt durch ihren Feldstecher. "Hast du dir schon einmal überlegt, was aus der Menschheit geworden wäre, wenn Eva ihren Adam nicht zum Naschen an der Frucht des Baumes der Erkenntnis überredet hätte? Würden noch immer paradiesische Zustände herrschen? Gäbe es nur Gutes auf der Welt? Keinen Krieg, keine Krankheiten, keinen Hunger, keinen Neid?" Richard bedachte sie mit einem eindringlichen Seitenblick. Marlene kratzte sich am Hinterkopf und schürzte ihre Lippen, "Und keine Scham. Vielleicht wären wir alle gottgleich. Aber warum drehst du die Geschichte so, als wäre nur Eva Schuld an diesem Desaster. Immerhin wurde sie vom Satan mit aller Hinterlist dazu verführt." "Wäre diese schwache Frau nicht gewesen, wer weiß. Denn anfangs hatte sich Adam standhaft geweigert, immer Gottes Mahnung im Hinterkopf. Und nur die Liebe und die Solidarität zu seiner Eva, ließ ihn diese folgenschwere Unbesonnenheit ausführen." Marlene schnitt ihm entrüstet das Wort ab, "Na das finde ich toll. Ihr Männer macht es euch leicht und schiebt einfach die Ursache für die Vertreibung aus dem Paradies der schwachen Frau in die Schuhe. Adam war auch kein besserer Mensch und vor Verführung und Neugierde gefeit. Vielleicht war er auch nur zu feige, um als erster von der Frucht zu kosten." Amüsiert zündete sich Richard eine Zigarette an, während Marlene ihn verärgert anfunkelte. Doch als sie plötzlich die riesige Giraffe friedlich im Baumwipfel äsend am Rande der Schotterstraße sah, war sie gleich wieder abgelenkt und die Kamera schnurrte. Richard stellte den Wagen ab und inhalierte den blauen Dunst mit tiefen Lungenzügen. "Wie riesig sie sind", flüsterte seine Gattin respektvoll. Richard erklärte ihr, dass Giraffen immer im Stehen schliefen, um eventuellen Angriffen von Raubtieren schnell entfliehen zu können. Marlene wunderte sich, was dieses langhalsige Monstrum wohl mit Affen zu tun hat. Über die Herkunft der Namensgebung wusste auch Richard nicht Bescheid. Der Paarhufer ließ sich nicht durch die Beobachter stören und futterte gelassen seine Blätter. Als genug Fotos geschossen waren, startete Richard wieder den Wagen und die Giraffe stelzte ob des Motorenlärms gestört gespreizt davon.
Der Geruch nach Freiheit machte ihre Herzen stark und mutig für ein weiteres Abenteuer. Wobei sie aber die verhängnisvolle Auswirkung nicht erahnen konnten. Auf dem Weg in Richtung Aasvögel hätte Richard bald eine Schildkröte überfahren, die er für einen weiteren Dunghaufen hielt. Hundert Meter von der Straße entfernt, stand der riesige Baum, der von den hässlichen Vögeln umkreist wurde. Am Boden kämpften zwei Hyänen um Fleisch- und Knochenreste. Auch einige couragierte Aasgeier wollten mitmischen, wurden aber jedes Mal, wenn sie der Beute nahe kamen, unter bedrohlichem Knurren weggejagt und aufgescheucht. Das vorletzte Glied der Nahrungskette pochte auf sein ihm zugewiesenes Recht. Ein faszinierendes Schauspiel über den brutalen Grundsatz der Natur: Leben und leben lassen. Die beiden Zuschauer waren begeistert. Richard stellte den Motor ab und streckte neugierig den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster. Marlene, die nur einen ungenügend freien Blick auf das Geschehen hatte, stieg kurzerhand aus und schoss eine Serie Fotos über das Autodach hinweg, was ihr Schelten ihres Mannes einbrachte, der sie an die Sicherheitsvorschriften - niemals das Fahrzeug zu verlassen - nachdrücklich erinnerte. Doch eigensinnig wie sie war, setzte sie sich darüber hinweg und lauschte den Gänsehaut erzeugenden, grimmigen Tierlauten. Doch etwas störte sie an der Szenerie. Plötzlich hielt sie inne und drehte ein Ohr dieser Geräuschkulisse zu. Es war ihr, als hätte sie ein Kinderweinen wahrgenommen. Aufgeregt machte sie ihren Mann darauf aufmerksam, dich dieser meinte gelassen, Hyänen würden so ähnlich klingen. Aber Marlene gab sich nicht damit zufrieden. Beide horchten angestrengt. Und wirklich, ein Lüftchen trug leise, aber doch wahrnehmbar, das Weinen und Schluchzen eines Kleinkindes zu ihnen herüber. Marlene sprang in den Wagen. Die beiden waren verwirrt und berieten hektisch, was zu tun wäre: "Wir sollten dorthin fahren und uns vergewissern!", meinte sie in heller Aufruhr. "Du weißt doch, dass man die Wege keinesfalls verlassen darf. Wir sollten einen Wildhüter suchen", wendete Richard ein, aber seine aufgeregte Frau fiel ihm scharf ins Wort. "Dann könnte es zu spät sein. Los, wir fahren jetzt hinüber, oder ich setze mich ans Steuer!" Das zornige Funkeln in ihren Augen verriet ihm, wie ernst sie es meinte. Er startete und setzte langsam das Auto in den heißen Savannensand. Es war, als wäre Südafrika ein riesiger Backofen bei dem Tür offen stand. Richards Kleider klebten wie Waschlappen an seinem Körper. Nur keine Reifenpanne, dachte er kurz und beide kurbelten die Fensterscheiben hoch und verriegelten zur Sicherheit die Türen. Als Richard aber ein violettes Leinentuch erkannte, an dem zwei weitere rangniedere Hyänen geifernd zerrten, war es mit seiner Vorsicht vorbei. Er stieg ins Gaspedal und ließ die Reifen durchdrehen. Marlene griff ins Lenkrad und betätigte die Hupe, worauf das Getier einen Moment erstarrte, die Geier sich dann kreischend in die Lüfte erhoben und die Hyänen Reißaus nahmen. Richard lenkte den Wagen rallyemäßig in schlingernden Kreisen einige Male um den Baum herum und hüllte alles in roten Staub, bis der Motor des Wagens abstarb und die Raserei zum Stillstand kam. Nur ihr tapferes Herz nicht. Es pochte ihnen bis zum Halse. Als sich die Staubschwaden senkten und den Blick wieder freigaben, stieg Richard langsam gebückt aus dem Auto. Jede Faser seines Körpers war angespannt wie ein Flitzbogen - die Gefahr erwartend. Nichts war zu hören. Hinter dem Baum lag das Tuch und daneben lag der Torso einer schwarzhäutigen Frau. Stücke herausgerissen, blutverschmiert, fast unkenntlich. Richard stützte sich würgend an den Stamm und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Die Natur hatte sich hier mit der Mahnung, Wildheit ist nicht nur schön, sondern auch lebensgefährlich, von ihrer grausamen Seite gezeigt. Marlene saß erstarrt im Auto, beobachtete und ahnte wohl schon, das ihrer Sicht verborgene Bild des Grauens. Plötzlich vernahm Richard ein leises Niesen über seinem Kopf. Er sah hoch und bemerkte ein kleines, in purpurrotes Tuch gehülltes Kind in einer Astgabel sitzend. Das schwarze Antlitz leuchtete ihm entgegen und der niedliche Mund brabbelte unverständliches Zeug. Schnell zog er sich mit der Linken am untersten Ast in die Höhe, umschlang den dicken Stamm mit seinen Füßen und versuchte, mit der anderen Hand das Kind zu greifen. Er krallte das Tuch zusammen und hievte das Mädchen behutsam an seine Brust. Marlene, völlig aufgewühlt unter ihm wartend, übernahm die menschliche Fracht und schloss sie beschützend in ihre Arme. "Wir müssen jetzt schnell ins Auto und weg hier, bevor die Meute wiederkommt", unterbrach Richard die andächtige Szene mit ruhelosen Seitenblicken, um Ausschau zu halten. Marlene küsste und liebkoste das Kind, so dass dieses glückliche glucksende Laute von sich gab und ihr ein Lächeln als Dank für seine Befreiung schenkte. Die Retter brausten mit ihrem Golf in Richtung Camp. Beim Hippopool sahen sie einen Wildhüter, der die Touristen über eine hängende Holzbrücke zum Fluss hinunter zu den Nilpferden und Krokodilen begleiten sollte, im Schatten einer Akazie sitzen. Richard erklärte ihm, in einem vor lauter Aufregung stockenden Englisch, was sich zugetragen hatte und zeigte ihm die Richtung des Unglücksortes. Der Wildhüter schnappte sein altes, faul am Baumstamm lehnendes, Mauser-Gewehr, trug ihnen auf, das Kind zum Camp-Arzt zu bringen und rannte leichtfüßig los. Nach einer Stunde waren sie im Camp angekommen. Die Kleine schlief seelenruhig, als wäre nichts geschehen und Marlene musterte sie sorgenvoll und gerührt zugleich.
Es wurde zu einer von Marlenes Lieblingsbeschäftigungen: Der Kleinen beim Schlafen zuzusehen. Der Schlaf ist das Vergessen und das Erinnern zugleich. Alle Arbeit ist getan. Leonore ist gut versorgt. Sie kann ruhen, Kraft sammeln und heranwachsen. Nicht in den kühnsten Träumen hatte sie sich vorgestellt, dass alles so kommen könnte. Schwierigkeiten mit den südafrikanischen Behörde, mit der Jugendwohlfahrt, mit dem Konsulat aus Mozambique, mit Freunden und der Verwandtschaft ... scheinbar unüberbrückbare Barrieren türmten sich auf. Lange Diskussionen mit Richard zeigten ihr aber, einen liebevollen Verbündeten in diesem Kampf zu haben, der ihr nicht nur Trost spendete, sondern auch mit aller Vehemenz und Nachdruck beiseite stand. Nachdem endlose Telefonate geführt, Formulare ausgefüllt, Tränen vergossen waren und die Zeit schon gegen sie arbeitete, durften sie Leonore endlich zu sich nach Hause holen. Sie nannten sie Leonore, weil sie den Löwen besiegt hatte. Ihre leibliche Mutter war aus dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Mozambique geflüchtet und überquerte die Grenze über den Kruger-National-Park. Dabei wurde sie von einem Rudel Löwinnen angefallen und konnte nur mehr ihre Tochter retten, indem sie die Kleine in der Baumgabel versteckte. Und heute kann Marlene über Leonore lachen, wenn sie die Dreijährige im Bad vor dem Spiegel beobachtet, wie sie ihren dunklen Körper mit der großen Rückenbürste hartnäckig abschrubbt, um so eine weiße Haut wie ihre Mutter zu bekommen.



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