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Der Geist in ihm
© Doris Doppler
Die Sonne stach. Sie war wie hinter Milchglas verborgen und dennoch giftig. Ein dünner Schleier lag zwischen ihr und dem Blättergewirr, durch das sich britische Dschungeltouristen quälten. Rob war der letzte der kleinen Gruppe. Mechanisch bewegte er seine geschwollenen Füße, atmete schwer. Er vertrug die heißen Dämpfe nicht, die aus unbekannten Quellen aufstiegen und den Wald beinahe kochen ließen.
Wenn er jetzt stehen blieb, würde die Luft noch dicker erscheinen. Wie Sirup, den er durch seine Lungen pumpen musste. Er würde feststellen, dass seine nasse Kleidung die Poren verstopfte. Alles an ihm war feucht und roch abgestanden. Die Sonne würde all ihre Energie auf ihn richten und ihn verdampfen lassen.
Er blieb stehen. Die Augen geschlossen, den Mund geöffnet. Gerüche krochen an ihm entlang. Er fühlte, wie sich gierige Ranken und Triebe an ihn drängten. Aufdringlich und lüstern. Pflanzliche Lustmolche. Rob atmete diesen Gedanken weg und besann sich auf seinen müden Körper. Ein wenig wollte er noch ausruhen, nur noch eine Minute. Er redete sich ein, die kühle Luft finnischer Wälder zu trinken. Perlenden, klaren Sauerstoff.
Schatten. Ein schwarzes Etwas schob sich vor die Sonne und in seinen Kopf. Rasseln, trommeln, blecherne Laute. Rob wollte das Schwarz wegwischen, wollte sehen. Seine Glieder versagten. Je ein harter Griff um seine Arme und Beine. Flüstern. Das Schwarz zog ihn hinunter in eine andere Welt.
Nach einer Zeit im dumpfen Nichts tauchte Rob auf. Er schwamm durch ein fremdes Universum. Die dunklen Gesichter von Eingeborenen umringten ihn. Ihre Hände strichen über seine feuchten Wangen, wühlten durch sein Haar. Fremde Menschen starrten ihn an, fragend und zweifelnd.
Rob kniff die Augen zusammen, er sah unscharf. Hinter den zudringlichen Schwarzen konnte er einen runden Platz erkennen, bedeckt mit rötlichem Sand. An den Rändern drängten sich schiefe Hütten aneinander. Kinder spielten mit Steinen und sahen zu ihm herüber. Dahinter begann vermutlich der Dschungel.
Rob befand sich in der Mitte des Grals, man hatte ihn auf eine runde Grasmatte gelegt. Neben sich entdeckte er einfache Wasserkrüge. Er merkte, dass er durstig war. Ein Gefäß mit schmutzigem Brei, seine schlammverschmierte Kamera und seine Brille bildeten eine eigenartige Gruppierung. Rob griff nach den Augengläsern und reinigte sie hastig. Die Sonne stach immer noch auf ihn ein.
Ein Gesicht löste sich aus dem verschwommenen Reigen und näherte sich Rob. Alte Augen betrachteten den weißen Mann. Sie waren blank und ewig, als hätten sie unendlich viele Sternenreisen miterlebt. Die Wangen des alten Mannes lagen unter einer weißen Kruste verborgen. Die Stirn war rot bemalt, und auch hier begann sich die Farbe zu verfestigen. Um seinen Hals hingen unzählige Tierzähne und kleine Pfoten. Er roch nach Kampfer.
Der Mann, den Rob für einen Zauberer hielt, berührte ihn. Auf dem Scheitel, über den Augen, auf der linken Seite.
Rob atmete tief. Sein ängstliches Herz beruhigte sich und schlug wieder regelmäßig. Trommeln übernahmen seinen Rhythmus, alles vibrierte. Ferne Gesänge webten einen dämpfenden Klangteppich, gleichmäßige Töne wiegten seinen Leib. Rob legte sich auf den Rücken, spürte das geflochtene Gras unter sich. Er wusste sich umgeben von fremden Menschen, sah in einen fremden Himmel und fühlte sich dennoch ganz bei sich, ganz daheim.
Der Zauberer hatte sich in seine Hütte begeben. Er murmelte heilige Worte. Sie stammten aus der Zeit der Ahnen, aus jenen Tagen, in denen man die Götter erkannte und sie als Schöpfer zu verehren lernte. Mit den heiligen Worten reiste der Zauberer zurück in jene Zeiten und holte sich ihre Magie in den Trank, den er bereitete. Er hatte die Augen geschlossen.
Fremde Kräfte waren es, die seine Hände die Zutaten vermischen ließen. Fremde Kräfte waren es auch, die den Zauberer die Mixtur dem Weißen einflößen ließen, der sich in sattem Halbschlaf befand. Und fremde Kräfte waren es, die den Zauberer zurückstießen und mit ihm die Schar der gaffenden Gralsbewohner.
Eine schwarze Scheibe schob sich vor die Sonne, gelbes Zwielicht ließ den Dschungel leuchten. Das Trommeln wurde unrhythmisch. Die Eingeborenen sahen, wie sich Robs blasse Haut jäh verdunkelte. Sie wichen weiter zurück, einige beobachteten das Geschehen von ihren Behausungen aus. Sie sahen Rob, wie er einsam auf dem großen Platz saß, verwirrt, verschreckt, seine verfärbten Hände betrachtend. Er wirkte verloren, wie ein verlassenes Kind. Man raunte sich einen Namen zu: Mbutu.
Rob saß aufrecht da, den Geschmack des eingeflößten Trankes auf der Zunge. Das Aroma nahm seinen Körper gefangen, ihm war, als ob er seine Organe riechen könnte. Er schien den Geruch auch auszudünsten. Außerdem verwirrten die unregelmäßigen Trommelschläge sein Herz. Es arbeitete wieder stockend. Rob spürte sein Blut, das sich auszudehnen schien. Verdickter Sirup zwängte sich durch enge Gefäße, rote Tröpfchen zitterten auf seiner Haut.
Rob atmete schnell. Die Luft war dick und feucht. Er sah sich um, er sah die Eingeborenen, die sich in ihre Hütten geflüchtet hatten. Nur das Weiß ihrer Augen drang durch das fahle Licht. Der Zauberer stand mit verschränkten Armen da und starrte ihn an. Er sah, wie Rob aufquoll. Etwas schien sich in ihm einzulagern, kleine Kugeln bewegten sich unter seiner Haut. Man hörte es zischeln: Mbutu.
Etwas war in Rob eingedrungen.
Etwas hatte sich Eintritt verschafft, etwas kontrollierte ihn. Etwas machte, dass seine Augen sich ruckartig bewegten und alles um ihn herum aufzeichneten. Etwas ließ ihn aufstehen und herumwirbeln.
Mbutu war in ihm.
Er packte Rob, jagte ihn aus dem Gral hinaus, den lehmigen Hang hinunter, hinein in dämmriges Grün. Er hetzte ihn durch stinkenden Morast, auf Bäume hinauf und hinunter, noch einmal hinauf, wieder hinunter, ein irrwitziges Treiben, in dem Rob sich selber jagte und gleichzeitig den Dämon in ihm. Nervöse Totenäffchen schlossen sich kreischend an, sprangen auf den Gejagten, verkrallten sich in seinen Haaren und ließen wieder von ihm ab. Spinnen hakten sich in Rob fest, leckten an seinen Blutströpfchen und fielen
zu Boden. Kletterpflanzen bohrten sich in Robs Haut, setzten ihre Widerhaken und rissen ihm Fleischstückchen weg. Er wälzte sich in roten Ameisen, schrie laut. Er lief im Kreis, noch einmal und noch einmal. Rob keuchte, seine Körpermasse zog ihn zu Boden. Mbutu peitschte ihn durch lebendes Dickicht und hetzte verbündete Tiere auf ihn. Er laugte Rob aus, stülpte sein wundes Inneres nach außen. Rob übergab sich und fiel in ein neues Nichts.
Wieder tauchte Rob aus einer trägen Dunkelheit auf, diesmal in ein grelles Weiß. Eine Taschenlampe blendete ihn. Nawo, sein Tourguide, saß neben ihm im nächtlichen Dschungel und umarmte ihn. Er war erleichtert, dass Rob lebte. Der junge Nigerianer hatte Rob an der Stelle gefunden, wo er verschwunden war. Und nun entschuldigte er sich stammelnd für seine Unachtsamkeit, für seine Rücksichtslosigkeit, mit der Gruppe einfach weiterzumarschieren, ohne auf Rob zu warten. Schuldbewusst gab er Rob zu trinken und wusch
ihm das Gesicht. Der Brite ließ alles mit sich geschehen, er war erschöpft.
Nawo redete in kaum verständlichem Englisch auf ihn ein, sprach wirr und abgehackt. Er erzählte von einem nahegelegenen Stamm. Die Eingeborenen glauben, dass Mbutu, ein Geist der Zwischenwelt, von Zeit zu Zeit das Verlangen hat, in einen Menschenkörper zu fahren. Um sich mit dem Geist gut zu stellen, suchen sie ihm einen passenden Wirt. Meist entführen sie dazu Weiße, Fremde, Touristen. Der Zauberer verabreicht dem verschleppten Mann Drogen und ruft den Dämon. Die Sonne verdunkelt sich und für eine kurze Zeit
werden Mbutu und der Mann eins.
Nawo machte eine Pause.
Manchmal stirbt das Opfer. Dann schleppt der Zauberer den Leichnam in die Wälder. Dort verfault er, unbehelligt von hungrigen Tieren. Sie verzichten auf sein Fleisch, denn sie erkennen das Böse im toten Gewebe.
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