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SÜDAFRIKA - Erzähltriptychon mit fehlerhafter Pieta
© Barbara Krauß
LINKER FLÜGEL:
Ein Raum, sehr hoch. Die Decke ein Raufaserquadrat, weiß, mit Lampennabel. Von alleine geht dieses Licht nicht an. Er beschwört es tagsüber, gelegentlich, als könnte er mit seinen Gedanken den Stromfluss erzwingen, ohne aufzustehen, ohne den Schalter zu drücken. Vergebens. Abends, wenn es dämmert, tritt die Riesin in den Raum. Licht bricht dann von unklarer Quelle von draußen herein und schiebt ihren vielfachen Schatten über den Fußboden, klappt ihn an die Wand wie man eine Seite blättert, bricht ihn am Mobiliar,
dem hohen Kleiderschrank, der gefährlich aussieht aus der Sicht eines Liegenden, am Kopfende seines Bettes. Hoffnung keimt auf, in diesem Moment, er könnte sie zusammenfalten, diese vergrößerte Frau, auf ein Maß, das er aushalten kann, an ihren Sollbruchstellen, die eben mit den Schrankkanten identisch sind, jetzt mit den Zimmerecken, abgeleimte, herausgeputzte, unveränderliche neunzig Grad, die sich als spitze und stumpfe Winkel ausgeben, wenn er den Kopf dreht.
Sie macht einen Schritt nach vorn, und schon ist die ganze Decke voll von ihrem gigantischen Kopfrumpf, einer fließenden Gestalt, die nicht schwarz ist, weil ein Schatten, hervorgerufen durch Licht, niemals schwarz sein kann, vielmehr ein körniges Dunkelgrau, wie auch der Mond (bei sehr klarer Sicht) immer voll ist, wenn auch von einer Nachthimmelschablone überlappt. Für ihn gibt es hier nur den Schatten aus Licht. Jede mächtigere Dunkelheit wäre der Tod.
Das Licht scheint verändert; sie hat neu installiert, so wie ihr Schatten sich kaleidoskopisch bricht in tausend Nuancen von Grau. Im Flur muss es jetzt Boden- und Hüftlampen geben, Schulter- und Deckenlampen, diffuse Lichtquellen an den Seiten, rechts und links der Tür, ein lautes, aufdringliches Orchester aus Lampen, die die stille Dunkelheit seines Zimmers stören. So muss es auf den Rückseiten von Caravaggio-Gemälden aussehen, genau wie in diesem Zimmer, wenn die Tür zum Flur sich plötzlich öffnet: ein sich
Brechen, sich Treffen, ganze Unfälle von Schatten.
Musik begleitet den Auftritt der Riesin und dieses Licht, das ihr Gesicht ins Dunkle hüllt, den Hals und die Brust; man sieht nur das Äußere ihres Haarhelms, ein ausgefranster, beleuchteter Blechdosendeckel, an dem längere, strohige Haare die Symmetrie stören, von einem Lichtkranz umbogt, der ihn an einen Heiligenschein erinnern würde, wenn er an solche Phänomene glaubte. Doch wer die Religion zu Rate zieht, der muss sich Fragen gefallen lassen: warum tut er's, was nützt ihm das, kann man das steuerlich absetzen,
war Gott in Bosnien, und so fort. Er glaubt, dass er keine Fragen mehr beantworten muss, also glaubt er nicht mehr an Gott, so einfach ist das.
Licht und Musik. Der Auftritt der Riesin. Das Verjagen der Stille, jenes trägen Insektes seiner ereignislosen Tage. Und plötzlich: Qualen. Ein menschliches Ungenügend am Korrekturrand seines Lebens. Längst dominiert sie ihn in ihrem abendlichen Kampf, von dem er vergessen will, wann er begann, irgendwann im letzten Jahr, an einem Dienstag. Dienstags kommt sie später, da ist er schon da; auch damals kam sie später und er war schon da, nicht bezeichnend früher als sonst. Vier Worte können ein Urteil sein, das weiß
er seit jenem Tag: Drei Monate zum Quartal, so hieß das seine, inzwischen vollstreckt. Seitdem bestehen die Tage für ihn aus zunehmendem, abnehmendem Licht, im Flur und draußen vor seinem Fenster, rechts, wenn er den Kopf dreht, das nicht mehr ihr gemeinsames Fenster ist, denn sie schläft jetzt woanders, vom Bett aus ohne freien Blick in den Garten.
Kaum ist sie da, spricht sie ihn an. Ihr Ton ist ihre schärfste Waffe, weniger das, was sie sagt, denn wer hört schon noch hin, wenn Menschen reden? Keiner sagt mehr die Wahrheit, außer unter der Folter. Die Vergehen des Delinquenten aber sind lässliche Sünden; gestohlen hat er nie, dafür gäbe es Zeugen, und wenn er die aufbieten müsste, kein Problem. Geraucht hat er viel, was nicht hierher gehört, weil die halbe Menschheit raucht, die Tiere noch nicht, aber vielleicht käme auch das, rauchende Katzen und Hunde.
Kinder und Schwangere und Lungenkrebskranke rauchen schon und noch, auch in geschlossenen Räumen, auch mit Säuglingen im Auto, deswegen liegt er nicht hier, das kann er vergessen. Politisch tätig ist er nie gewesen, nie ein Aktivist, und Wackersdorf war ihm peinlich, nur vom Zuschauen. Er ist weder links noch grün und auch keine Gefahr für die innere Sicherheit. Augenblicklich ist er Nichtwähler, was kein Verbrechen ist, man kann sich dazu verstehen, einmal gar nichts zu tun.
Die Riesin sagt ihre Sätze auf und verbreitert den Korrekturrand auf Kosten seines Lebenstextes, korrigiert, was er noch gar nicht gesagt hat, denkt und sagt in seinem Namen schon alles voraus, resümiert, prognostiziert und lamentiert über den bedauerlichen Zustand unter ihren Augen, der sein Existieren ist, unnötig, dass er sich selbst zu Wort meldet. Er will seine Stimmbänder schonen, die längst aus der Übung sind, und würde er schreien, würde niemand ihn hören. Ihre Rede begleitet die Nachrichten, die die
Musik ablösen und aus dem unsichtbaren Radio aufsteigen, das im Lichtgewitter des fernen Flures die vermutlich letzte Steckdose besetzt hält. Das Radio ist ihm näher als ihre Stimme, obwohl die Person sehr viel näher als der Apparat an ihm und seinem Bett steht, auf der Türschwelle, jetzt in der Absicht, näher zu treten. Er ignoriert das Vibrieren ihrer Lippen, die immer geschminkt sind, auch am Abend noch, obwohl er ihren Mund im Gesichtsschatten gar nicht sehen kann, so wie man bei Weitsichtigkeit die Hand
vor den Augen nicht erkennt, wenn man detailversessen durch die Finger blickt. Er weiß genau, dass sich beide Betrachtungsweisen ausschließen, Detailsicht und Ferne, obwohl er jetzt gerne fern wäre von hier, zugleich liegend und fern, wie es nur ein Traum ihm bescheren kann, und nicht länger den Verbalschlägen der Riesin ausgesetzt, die gnadenlos und penetrant sein kann - er selbst hat ihr das einst beigebracht.
"...bis zu vierzehn Grad in der Kölner Bucht..." sagt ihm die Apparatestimme im Flur, "...bei mäßigem Westwind. Nachts sinken die Temperaturen auf Null, stellenweise gibt es Bodenfrost." Sie hat wieder den falschen Sender eingestellt, die großräumige Beschallung der Rheinebene macht es möglich. Und schon ist man Gesprächen ausgeliefert, die hier absolut nutzlos sind, weil sie zweihundert Kilometer weiter nördlich geführt werden sollten. Auch was sie zu ihm sagt, ist absolut nutzlos; er müht
sich erst gar nicht, den Teilen ihrer Rede auf den Sinn zu kommen. Jeden Abend, wenn es dämmert, kommt sie und steht bedrohlich in der Tür. Und mit dem Licht im Flur erscheint der niederbrennende Tag vor dem Fenster plötzlich noch dunkler, und ihre scharfe Korrektur mit dem vielen Rot frisst scheibchenweise seinen Text, bis die Spalte geleert ist, und er darf dann nicht abwinken, das weiß er. Er darf sich mit seinen Händen alles erlauben, nur nicht abwinken; im Moment lagern sie seitlich, die Arme eine Achse,
wie da Vincis Kanon der Proportionen es vormacht, die Handflächen allerdings nach unten, eine schwierige Lage, und er kann die Hände nicht heben, denn sie tun, als stünden sie Modell für eine Studie aus Blei. Zwei abgehackte Bleihände, der Körper dazwischen bedeutungslos, mit einem weißen Laken bedeckt. Nur das Pflaster an der Linken leuchtet wie ein letztes Zugeständnis an das Leben, denn im Tode machte ein Wundverschluss ja überhaupt keinen Sinn.
Die Riesin tritt näher, wie jeden Abend. Ihre Vergrößerung ist ihr Ritual. Sie greift nach seiner Hand wie einst Polyphem nach den Schafen fasste, und ihr Schatten fällt kalt auf sein Gesicht. Sie trägt einen Hosenanzug, den er nicht sieht, weil er die Augen weiter geschlossen hält, er selbst hat ihr dazu geraten, ein Schaf, das er ist, weil solche Kleidung sie männlicher macht. Er hört es am Schritt, den sie ausladend nimmt, mit diesem doppelten Stoff zwischen den Schenkeln, der die Flucht vor nächtlichen Triebtätern
ermöglicht, das Radfahren oder den Scherensprung über den Gartenzaun. Er würde wetten, wenn er sie darum bäte, während sie ihre Hand von der seinen nimmt, weil sie dort nicht hingehört, weil fremde Hände sich nur gegenseitig hindern, dass sie das inzwischen auch könnte, hinausgehen vor die Tür und über den Zaun scheren, was er nicht bezeugen würde, weil er sich immer noch wie gelähmt fühlte von ihrem brachialen Eintreten, Lamentieren, Schattenwerfen, Handdrücken - wo sie in letzter Zeit plötzlich wie selbstverständlich
alles kann.
Nur nicht wieder den Schlag auf die Fußsohle, hofft er, nachdem ihre warme Handfläche einen Film auf seinem Handrücken hinterlässt, der sich in Kälte verwandelt, wie Verdunstungskälte im Sommer, wenn man schweißig im Wind steht. Noch im letzten Jahr waren sie auf Mallorca. Dort hat er ihr das Schwimmen beigebracht. Jetzt kann sie auch das, und das Schlagen bei leicht gewölbter Handfläche und geschlossenen Fingern, so wie er ihr das vormachte, eher zum Spaß, ein Schaufeln von Luft aus der Körperdrehung, das ein
Brennen hinterlassen kann wie tausend Nadelstiche zugleich. So, wie sie einst schlug (und er spottete über ihr Ungeschick, ihren gespreizten Fingerschlag, der keine Kraft überträgt), war sie die Lachnummer fürs Bauerntheater, wo man Kollegen nicht verletzt, obwohl es dramaturgisch um Leben und Ehre geht. Nein - er hat ihr das Schlagen beigebracht für den Fall, dass die Lohnnebenkosten nicht endlich sinken, was die Facharbeiter weiter in die Arbeitslosigkeit treibt und ihre Kinder auf die Straße, wo sie Passanten
am helllichten Tage Messer an die Kehlen setzen und an roten Ampeln Autofahrer aus den Wagen reißen, Krieg auf dem Bürgersteig, noch kein Vergleich mit Südafrika. Jetzt beherrscht sie auch das, und er wagt nicht zu sagen, dass sie ihn nicht schlagen soll, denn nichts ist bei Lichte betrachtet lächerlicher, als wie er hier zu liegen, mit diesen geraden Beinen, gekreuzigten Armen, die Handflächen nach unten, als gäbe es ein letztes Geheimnis, das er vor ihr darunter verwahren könnte, dabei hat sie ihn längst durchschaut,
Südafrika ist weit, und sein Hemd ist liederlich schweißig, und die Wäsche riecht feucht, und im Gesicht sprießt der Bart, der aus ihm einen alten Mann macht; so zu liegen, fast reglos, wenn man die Bewegung der Augäpfel ignoriert, die ein verlängertes Denken ist, an Stielen aus dem Kopf gesprossen (noch immer mit geschlossenen Lidern, denn sie beobachtet ihn), und zu bitten, mit belegter Stimme: Schlag mich nicht!
ZENTRALES BILD:
Derselbe Raum, deutlich niedriger. Kürzere, weil nüchterne Betrachtung. Zu sehen: zunächst wenig. Nach der Gewöhnung an die Dunkelheit: ein Mann in einem Doppelbett. Die Putzfrau, die seit Wochen kommt, meidet diesen Raum. Sie fürchtet, der Mann, der da liegt, könnte einmal tot sein. Noch schlimmer: die Augen aufschlagen in seiner reglosen Wut und sie anstarren. Die linke Hand liegt auf dem Laken, mit dem Rücken zuoberst, gegen den Bettelverdacht. Die Haut fühlt sich kalt an, die Adern treten auch im Dämmerlicht
hervor, schmale Polster, die sich geräuschlos verschieben. Drinnen fließt ein roter Saft durch die mäandrierende Leitung, die am Handgelenk versinkt, nahtlos und dehnbar.
Sie greift in die Fleischfaltung zwischen Daumen und Zeigefinger, wo ein Rest Schwimmhaut ist, weil alles Leben aus dem Wasser kommt. Die Stelle sieht alt aus, auch bei einem Kind. Nur an den Händen des Menschen gibt es das, prähistorische Haut, die sich Raum sparend wölbt und faltet, als wüsste sie um ihre zu späte Geburt. Denn man schwimmt auch ohne diese Haut, man muss nur die Finger richtig schließen; seit ein paar Monaten kann sie das. Sie drückt diese Hand, die der Tür am nächsten liegt, wie jeden Abend.
Er reagiert nicht, also ist er wach. Er würde seufzen, zucken, wenn er schliefe, als Reaktion auf ihre Berührung, die ein Willkommensgruß ist. Er ist wach, will ihr sagen: lass mich, du siehst doch, dass ich schlafe!
Jeden Abend das gleiche Ritual: Heimkommen, Schuhe und Mantel aus, ein Blick in die Küche, in der es nach kalten Fliesen riecht, das Licht an, den langen Flur entlang, vorbei am Mahagonispiegel, in dem eine Fremde mit müden Augen mit ihr Schritt hält, die Hände ins Haar, um es zu lockern, obwohl er es doch nicht sieht, es scheint ihm egal zu sein, die neue Frisur, hinein in dieses Zimmer, in dem nie Licht ist, obwohl es fast dunkel ist, wenn sie heimkommt, dieser Raum, der zur Kloake geworden ist, alkoholsauer,
beißend vom Zigarettenqualm. Die Hand. Mit zunehmender Zeit wird sie mürber. Oder ihr eigener Händedruck wird kräftiger, und er will sich nicht messen.
Der Rauch im Zimmer ist warm; er wabert auf Schulterhöhe. Schlieren bilden sich gegen das Abendlicht. Der Aschenbecher wird unter dem Bett stehen, die letzte Kippe eben ausgedrückt, mit dem Geräusch ihres Schlüssels in der Eingangstür. Die Arme in dieser Pose, in der kein Mensch schlafen kann: leidend, ein Menschenkreuz. Alt ist er geworden, die Haut schweißig-weiß, eine gequollene Hühnerhaut, pockig vom Bart. Er rasiert sich nicht mehr, sein letztes Zeugnis, ein schweigender, infantiler Widerstand. Seit er trinkt,
steht er kaum noch auf. Es stinkt, als pinkelte er tagsüber ins Bett. Unterm Fenster stehen Flaschen, die sich hier vermehren, eine stille, aufdringliche Hohlkörperemission. Diese Glasdeponie scheint bekannt zu sein - wer am Haus vorbeikommt, tritt ein, stellt seine leeren Flaschen hinzu. Denn es scheint beinahe unvorstellbar, dass er alleine trinkt: für solche Mengen muss man eine gut besuchte Party sein.
Aus heiterem Himmel sagte er "Vater" zu Vater, und sie kam sich vor wie jemand, der beim Krimi nur kurz aus dem Raum geht und bei seiner Rückkehr schon alles verpasst hat. Sie ging hinaus, beim Familienkaffee, da waren alle beim Frankfurter Kranz, und mit vollem Mund spricht man nicht. Kaum waren die Brocken geschluckt und sie wieder da, waren die Männer beim "du", Paul sagte Vater zu Vater, der Vater sagte Paul zu Paul, und nur die Mutter beließ es - vorerst - beim Herrn Ingenieur, weil ihr
das so gut gefiel. Auch die Nachbarn nannten ihn anschließend gerne nur so, den Herrn Ingenieur, der mit Mannesmann in Südafrika ist, also ein ganzer Kerl, und vierteljährlich heimkommt mit staubigen Koffern. Mit dem Staub fielen auch immer Geschichten von ihm ab, aus den Townships, wo die Armut unaussprechlich sein soll, von den jungen, deutschen Kellermeistern, die in den Weingütern mit Weltruf eine ausgezeichnete Arbeit machen, und von den Gegenden, die man kennen müsse, weil man sie besser nicht kennen lernen
sollte. Sie kam sich vor wie ein Schaf mit ihrer Halbtagsstelle bei der Kreisverwaltung, nach der er niemals fragte. Er fragte nur: Geht's dir gut?
"Paul? Geht's dir gut?" Er antwortet nicht, liegt nur weiter stocksteif, in einer Haltung, die er nur im Liegen bewältigt. Sie gibt ihm einen aufmunternden Klaps auf den Fuß: nun komm schon! Er liegt weiter still, als würde an ihm operiert, und jede Bewegung brächte den Tod, und nur an den Händen zittert er, ein sehr leises, greisenhaftes Schütteln. Sie macht ihm das Licht an, vielleicht hilft das, denn sie selbst könnte nicht schlafen bei Licht und auch nicht so tun; es brennt in den Augen, selbst
bei geschlossenen Lidern.
Wenn es einen Raum gibt, in dem niemand dir hilft, weißt du, dass du ein Kind hast, sagte einst ihre Mutter. Du trittst ein du kannst immer nur selbst helfen, nie darum bitten. So gesehen hatte sie seit Monaten ein Kind. Einen Vollzeitberuf, den Haushalt, den Garten und dieses schamvoll versteckte Kind, das flüssige Nahrung bevorzugt.
Südafrika ist nah: Ecke Brahms- und Haydnstraße. Mit Musik kennt der Herr Ingenieur sich nicht aus. Dritte Querstraße links wohnen die Eltern. Der Wein aus Südafrika steht im ALDI-Regal. Schwarze Asylbewerber verlaufen sich nur selten in diese Gegend. Gewalt findet auf dreißig Kanälen statt, Menschen werden erstochen, erschossen, inzwischen auch schon frühmorgens vergewaltigt. Frieden bringt kurzfristig die Fernbedienung, ein elektronischer Waffenstillstand, den man bei Bedarf schließt und bricht. Sie beginnt
zu kochen - zuviel für eine. Er wird auch heute wieder nichts essen. Im Kühlschrank stapeln sich die Frischhaltedosen mit dem Zuviel-für-eine von gestern, von vorgestern, doch er rührt nichts an. Das Telefon läutet. Ihre Lügen sind aufgebraucht. Es ist ihre Mutter. Er liegt im Bett. Sie sagt es klar, ER LIEGT IM BETT, soviel Angst all die Wochen vor diesem Satz, vor den Nachbarn und diesem Satz, und nun kommt er deutlich: Paul liegt im Bett! Ja, zu Hause... Nein, krank ist er nicht... Er liegt so im Bett, den
lieben langen Tag. Ihm fehlt die Arbeit, sonst nichts. Ja, entlassen. Seit Wochen schon... Die Mutter schweigt, die Tochter redet. Dünstet Zwiebeln, einhändig, telefonbehindert.
Doch, viele Male schon, weiß nicht, wie oft... Einmal resigniert man, ich kann das ja irgendwie verstehen. Fünfzig Absagen, vielleicht mehr, jetzt liegt er saufend im Bett. Sie hat das Wort hastig ausgesprochen, die Mutter könnte laufend verstehen, doch sie versteht saufend und ist schockiert. Sie will es kaum glauben, der Herr Schwiegersohningenieur, so erfolgreich und jetzt saufend im Bett. "Bring ihn mir!" sagt sie, "Männer sind wie Kinder", als wäre die Reparatur eine Altersfrage. Nein,
sagt die Tochter, es hat keinen Zweck, in Kenntnis des mangelnden Geschicks der Mutter, die keinen Staubsaugerbeutel richtig einsetzen kann.
Vergangene Nacht ein allerletzter Versuch: Sie kroch zu ihm in dieses schweißige Bett. Enttäuschende zehn Minuten, die alles verschlimmerten. Zum Abschied ein neckischer Biss in die Hand. Viel gutes Zureden war anschließend nötig und ein Trostpflaster auf dieser unsichtbaren Verletzung, damit er nicht verblutet.
RECHTER FLÜGEL:
Die Riesin schlägt ihn, wie jeden Abend. Erst der Griff nach der Hand, dann der Schlag auf den Fuß. Und der Druck setzt sich fort auf Schien- und Wadenbein, auf die Oberschenkelknochen, die ihn wie Kolben übertragen auf die Wirbelsäule, von dort in den Kopf. Dort ist dieses Luftpolster, seit Tagen schon. Er kann sie förmlich spüren, diese kranke Leere: Sie nimmt den Schlag von der Schädeldecke zurück, ein Echo im Knochengewölbe, und lässt das Hirn schwingen, das seinen Platz nicht mehr vollständig füllt. Derselbe
Vorwurf ging an ihn, er würde seine Position nicht mehr ausfüllen, er kann also nachvollziehen, wie es seinem Gehirn jetzt ergeht. Nur der Alkohol gibt ihm noch ein sattes Glühen, eine heiße Wärme im Innern seines Kopfes, die die Stirn kochend macht, was ihm bewusst wird, weil ihre Lippen jetzt dort sind und sich kalt anfühlen unter ihrer Eisenoxidröte, obwohl sie in Wahrheit niemals kalt sind, auch unter dieser Pigmentschminke nicht.
Sie richtet sich auf, geht. Gleich kommt der Knall, wie nur ein Lichtschalter ein marterndes Geräusch machen kann, wenn man mit den Fingern nach ihm schlägt. Sie schlägt nicht, sagt sie auf seine Beschwerde, sie mache lediglich das Licht an, wie sie seit über dreißig Jahren das Licht einschaltet, seit sie groß genug ist, an die Taste zu kommen.
Knall und Kaltlicht. Gleichzeitig - wenn man die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde vernachlässigt, denn der Raum ist nicht groß. Mit einem Donner fällt die Tür zu und vibriert in der Zarge. Ein Nachbeben, geschätzte drei bis vier auf der Richterskala. Fieberstille. Für die folgenden Stunden wird nichts mehr so sein, wie während des langen, trägen Tages, an dem die allmählich steigende Sonne das Schattenquadrat des Fensters über die Wände schleifte, an unsichtbaren Fäden, von halb eins bis dreiviertel drei:
Der Fenstergalgen wandert über Weiß und Blau und Weiß und Blau, dicke Blockstreifen wie ein Lattenzaun, ein Licht- und Schattenzaun. Ein Käfig aus weißen, raumhohen Pfosten, außerhalb blaue Unendlichkeit. Er zoomt abwechselnd Blau und Weiß in den Vordergrund, bis ihm schlecht wird. Darauf einen Schluck. Eine Zumutung, hier liegen zu müssen und dieses Gitter zu bewachen; manchmal neigt es sich leicht nach vorn, auf ihn zu.
Diese Tapete war ihre Idee. Sie hat sie selbst angebracht, wobei angebracht das falsche Wort ist, denn man nagelt oder dübelt nicht: man leimt und passt sich der Wand an, die beinahe wie ein Blech ist, auf das man den Teig drückt - sagte sie, also kann sie auch das. Sie hat die Schränke leer geräumt und von der Wand gerückt - er liegend in seinem Bett. Sie hat die Schalterblenden gelöst und die Fußleisten abgeschraubt - er schlafend, in Wahrheit durstig, wann geht sie? Im Flur, von wo sonst die Stimmen aus dem
Kasten kommen, als läge er im Hinterzimmer eines Basars, stand der Tapeziertisch, und es roch nach Leim, der eigentlich keinen Geruch hat, man meint, man hat Schnupfen, wenn man die Nase daran hält, an den zähen, weißlichen Brei, der wie Sperma aussieht, nicht riecht, und er kann auch nicht sagen, wie er schmeckt. Nur das Zimmer rings um sein Bett, das nicht abgebaut wurde, weil es mitten im Raum steht, roch plötzlich dumpf und feucht von der vielen Nässe, die in langen Bahnen an die Wand kam.
Das Trägheitsmoment ist kein Flächenmoment zweiten Grades mehr, sondern sein Zustand: einfach hier liegen, auf dem Rücken, auch nicht schlecht. Die Durchbiegung des Bettes ließe sich rechnen, denn er kennt sein Gewicht, es wird noch annähernd dasselbe sein. Liegen, während andere unentwegt auf die Ämter laufen und Fragen beantworten und Formulare ausfüllen, die ihrerseits Fragen stellen, alles nutzlos, dieses Laufen, ausgetretene Wege wie Schützengräben in dieser Stadt, Richtung Arbeitsamt, Fragen stellen und
beantworten, ein Umeinanderwirbeln von Wörtern, in die man nicht mehr eingreift, sobald sie in Schwung sind, ausgelöst von einem einzigen Schreiben, das scharf wie eine Guillotine ist - der Schnitt wäre nur ein Kitzeln im Nacken, sagt man.
Er bleibt hier liegen und betrachtet die Tapete, die Farbe in sein Leben bringt (wenigstens war das die Idee der großen Frau), und die doch nur aussieht wie ein Affenkäfig. Und weil seine letzte Krawatte noch immer zur Schlaufe gebunden seit Monaten schon unnütz am Fenstergriff baumelt, wandert bei Sonnenlicht ein Galgen durch sein Gefängnis und vertreibt ihm den Tag.
Doch in letzter Zeit scheint die Sonne selten, dafür regnet es öfter. Er könnte beides berechnen, kein Problem: den veränderten Sonneneinfall ins Zimmer während des Tages, eine Vielzahl von Winkelfunktionen mit veränderter Schenkellänge, und die Fallgeschwindigkeit eines Regentropfens nach der Stokes- oder Newton-Reibung, für ihn, wie gesagt, kein Problem. Doch seine Koffer verstauben nicht mehr in Südafrika, sondern auf dem Schrank in deutscher Reihenhausluft. Und die Frau, die ihm am Flughafen immer nur bis
zum Hemdkragen reichte, wird von Tag zu Tag größer, wenn sie nach Hause kommt. Und ein kleines Männlein in seinen vernebelten Tagträumen sägt Formulare an einer Wörterkreissäge zu Schnipseln wie Tropfen und schreit: Aus! Das Spiel ist aus! Und die Frau, die immer unter ihm lag, sitzt plötzlich auf ihm, hält ihn gefesselt mit ihrem harten Griff und beißt ihm in die Hand.
Die Neonsonne brennt gnadenlos auf seine Lakenwüste. In der Küche, in der der Basar allmählich zu Ende geht (denn die Stimmen versiegen), geht das Scheppern von Töpfen und Tellern los. Es soll ihn ermuntern, seine Gefangenschaft anzuzweifeln, als sei sie Einbildung oder blanke Definition. Die Wellen- und Teilchenschleuder an der Decke macht die Nacht zum Tag, mehr Licht, als Gott erlaubt, die große Erlösung, die Edison über die Welt brachte. Er sollte aufstehen wegen dieses glühenden Wolframfadens im Schutzgas,
um die Korrekturspalte in seinem Leben auf ein würdiges Maß zurückzudrängen.
Sie hat sich das Haar geschnitten, eben fällt es ihm auf. Denn gestern noch fiel es schwer auf sein schweißiges Gesicht, als sie kam, um die Temperatur ihrer Lippen mit seiner Stirn abzugleichen. Heute steckt es ungefragt zwischen den Gummiborsten eines Friseurbesens. Morgen wird sie sich die Brüste verkleinern lassen und übermorgen wächst ihr ein Bart - einen leichten Flaum, so meint er, habe er schon gespürt.
Die Katastrophe wird unweigerlich ihren Lauf nehmen. Ihm bleibt nur die Zeugenschaft, die keine Mittäterschaft sein kann; für sich jedenfalls schließt er das aus. Und bleibt liegen, mit den Händen reglos wie fleischfarbene Schildkröten, die aus dem Betttuch kriechen, mit dem er sich die Tränen wischen könnte, denn es regnet zu häufig in diesem Zimmer. Sie bewässern ihm die Augäpfel, als könnte dort etwas keimen, eine blöde Hoffnung, dass er angesprochen würde, um den Wörterkreis aufzurollen. Erst das Du erhebt
den Menschen - schon Gott, an den er nicht mehr glaubt, hat das gewusst. Doch niemand spricht ihn an. Im Flur läutet das Telefon, die Mutterschwiegermutterstimme am Frauensorgenapparat. Es wird über ihn gesprochen, bis man über ihn hinweg spricht. Und nur wegen shareholder value liegt er hier, wenn einer sich traut, die Wahrheit zu sagen, und nicht wegen irgendeiner dämlichen Leere. Und er hebt nicht den Arm, dreht stattdessen den Kopf, der sich knirschend bewegt auf den in Stoff gehüteten Federn der Gänse, die
man in Ungarn blutig rupft, und drückt sein verregnetes Gesicht in das schmutzige Kissen, bis es alle Flüssigkeit aufsaugt.
Erzähl mir was von Afrika
Dr. Ronald Henss Verlag
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