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Der Armreif

©  Sabine Kiefner


Seit ein paar Monaten arbeitet Ibrahim im Juweliergeschäft seines Vaters in der Altstadt von Kairo. Viele Menschen stehen vor dem Schaufenster und betrachten die Schmuckstücke, doch nur selten betritt jemand den Laden, um einen Ring oder eine Kette zu kaufen. Wenn sein Vater nicht da ist, sitzt Ibrahim hinter dem Ladentisch und liest, um sich die Langeweile zu vertreiben. Manchmal kommt sein Freund Nabil vorbei, dem ein paar Straßen weiter ein kleiner Süßwarenladen gehört. Dann trinken die beiden jungen Männer Tee, den Ibrahim auf einem kleinen Gaskocher zubereitet hat und diskutieren über den Krieg im Irak. Nabils Mutter kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bagdad und flüchtete damals während des Iran-Irak Krieges mit ihren Eltern nach Ägypten. Daher verfolgt er alle Nachrichten in einem kleinen Radio, das er ständig bei sich trägt. Für Ibrahim sind die Besuche seines Freundes eine willkommene Abwechslung im eher eintönigen Alltag und so hofft er jeden Morgen, sobald er den Laden geöffnet hat, dass Nabil wieder vorbeischauen wird.
An diesem Tag ist es die Stimme einer jungen Frau, die ihn aus seinen Gedanken reißt.
Er hat nicht einmal bemerkt, dass sie den Laden betreten hat und nun vor der Vitrine mit den Armreifen steht.
"Salem Aleikum, Madame, kann ich Ihnen behilflich sein?"
Sie lächelt. Ibrahim entschuldigt sich für seine Unaufmerksamkeit und tritt hinter der Ladentheke hervor.
"Dieser hier gefällt mir besonders gut. Darf ich ihn mir einmal genauer ansehen?"
"Selbstverständlich, Madame."
Er nimmt den schmalen Goldreif aus der Vitrine und reicht ihn der jungen Frau.
Sie entblößt ihr schmales Handgelenk und probiert das Schmuckstück an. Sein Blick wandert über ihre zarten Hände.
"Sehr schön", sagt sie und betrachtet den Reif an ihrem Arm.
"Wie für Sie gemacht, Madame."
Ibrahim ist fasziniert von der Schönheit der jungen Frau, deren dunkles Haar bis über die Hüften reicht. Nur wenige Frauen zeigen sich in der Öffentlichkeit unverschleiert.
"Nennen Sie mich Warda."
"Was für ein bezaubernder Name. Er passt zu Ihnen."
Er ist nicht sehr geübt im Umgang mit Frauen. Üblicherweise erscheinen sie in Begleitung ihrer Ehemänner, die den Preis mit ihm aushandeln, während die Frauen schweigend im Hintergrund stehen.
Warda trägt keinen Ehering.
Er würde sie gerne zu einer Tasse Tee einladen.
Sie bedankt sich und erzählt ihm, dass sie schon seit mehreren Stunden unterwegs ist, um das passende Schmuckstück zu finden. Ibrahim holt zwei Gläser aus einem Regal und stellt die kleine Teekanne auf seinen Gaskocher. Er bietet ihr seinen Stuhl an.
"Machen Sie es sich bequem, Warda. Der Tee ist gleich fertig. "
Sie schenkt ihm das bezauberndste Lächeln, das er je gesehen hat. Während er Milch und Zucker in die Gläser füllt, beobachtet er sie. Warda ist ganz anders, als die Frauen, die er bisher kennen gelernt hat. Ihre Füße stecken in modischen Pumps, die vorne mit einer Strassspange verziert sind. Der bunte Rock gewährt ihm einen Blick auf ihre Beine, die in glänzenden Nylonstrümpfen stecken. Ibrahim ist fasziniert.
Er möchte sie berühren, nur ein einziges Mal.
"Sind Sie aus Kairo?" fragt er, als er die Kanne vom Gaskocher nimmt und den Tee in die Gläser schüttet. Sie nimmt vorsichtig einen Schluck und nickt.
"Aber geboren bin ich in Beirut."
Er würde gerne wissen, wo sie wohnt, aber es gehört sich nicht, eine Frau nach ihrer Adresse zu fragen.
"Waren Sie schon einmal im Libanon?"
Ibrahim schüttelt den Kopf.
Er hat seine Heimat bisher nur ein einziges Mal verlassen und das ist lange her.
"Ich war zuletzt als kleines Mädchen dort. Dann starb meine Mutter und mein Vater brachte mich zu seiner Schwester, die hier in Kairo lebt, genauer gesagt, in Misr al Gadidah."
Wardas Lächeln verschwindet für einen Moment aus ihrem Gesicht.
"Mein Vater starb zwei Jahre später bei einem Bombenangriff der Israelis."
"Das tut mir leid."
Sie steht auf und legt den Armreif zurück auf die Ladentheke.
"Gefällt er Ihnen nicht?"
"Er ist wunderschön. Ich werde zurückkommen, wenn ich mich entschieden habe."
Sie bedankt sich für den Tee und reicht ihm ihre Hand.
"Ich kann Ihnen gerne auch noch andere Schmuckstücke zeigen, wenn Sie mit der Auswahl hier nicht zufrieden sind."
Ibrahim möchte nicht, dass Warda sein Geschäft schon verlässt. Am liebsten würde er sie fragen, ob er sie einmal zum Essen einladen darf. Doch er schämt sich, weil er nicht genug Geld hat, eine Frau auszuführen. Schon gar nicht, wenn sie aus einem Viertel Kairos kommt, wo die Reichen und Berühmten wohnen.
Sie nimmt ihre Handtasche und geht hinaus auf die Strasse. Ihr Haar schimmert in der Abendsonne. Ibrahim ist verliebt. Ein Hauch ihres Parfüms erfüllt den kleinen Raum und er beginnt zu träumen. Er muss sie unbedingt wiedersehen.
Die nächsten Tage wartet er vergeblich auf sie. Dabei hat er sich schon genau überlegt, was er sagen wird, wenn sie erneut den Laden betritt. Wahrscheinlich hat sie sich für einen anderen Armreif entschieden. In unmittelbarer Nähe gibt es noch weitere Juwelierläden. Es ist die Straße der Gold- und Silberschmiede, in der das Geschäft seines Vaters liegt. Ibrahim sitzt lustlos hinter der Ladentheke und liest Zeitung.
Er ist traurig, dass Warda nicht kommt. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Gegen Mittag erscheint Nabil mit einer großen Portion Felafel und wichtigen Neuigkeiten.
"Was ist geschehen, mein Freund?", begrüßt er Ibrahim und packt die Tüte mit den Kichererbsenbällchen auf der Theke aus.
"Ich habe uns etwas zu Essen mitgebracht."
Ibrahim holt eine Flasche Wasser aus dem alten Kühlschrank, der hinter einem Regal steht und reicht sie Nabil. Die beiden Freunde essen, während im Hintergrund Nabils Radio läuft. Es gibt immer noch keine gute Nachrichten aus dem Irak. Ibrahims Freund ist bestürzt.
"Meine Mutter hat so viele Verwandte dort und wir wissen nicht, ob sie noch leben oder wie es ihnen geht."
Ibrahim nickt schweigend. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders.
Immer wieder schweift sein Blick zur Tür.
"Erwartest du Besuch?", fragt Nabil seinen Freund, "vielleicht eine hübsche Frau?"
Ibrahim erzählt ihm von seiner Begegnung mit Warda.
Nabil lacht.
"Dich hat es ja ziemlich erwischt. Aber ich glaube, es wird für dich am besten sein, wenn du sie so schnell wie möglich vergisst. Ihre Eltern werden einer Hochzeit niemals zustimmen Sie lebt in einer anderen Welt, Ibrahim. Misr al Gadidah ist der Ort der Reichen. Bist du schon einmal dort gewesen?"
Ibrahim fragt sich, wie er sie vergessen soll, wenn er jede Nacht von ihr träumt und tagsüber auch an nichts anderes denken kann.
"Such' dir ein Mädchen aus unserem Viertel. Warda wird dich nur unglücklich machen."
Nabil holt ein Foto aus seiner Hosentasche.
"Siehst du. Das ist Suhaila, von der ich dir schon ein paar Mal erzählt habe."
Er reicht Ibrahim das zerknitterte Bild einer jungen Frau.
"Wir feiern in zwei Wochen Verlobung und werden noch in diesem Jahr heiraten."
"Ist es das, was du mir unbedingt sagen wolltest?"
"Ja." Nabil strahlt. "Ihr Vater hat endlich zugestimmt."
Auch in den beiden folgenden Wochen bleibt Warda dem Juweliergeschäft fern.
Ibrahim hat den Armreif immer noch für sie zurückgelegt.
Doch an diesem Tag packt er ihn in einen dunkelroten Samtbeutel und schließt den Laden schon am frühen Abend, um sich auf den Weg zu Nabils Verlobungsfeier zu machen.
Er geht zum Friseur und fährt anschließend mit dem Taxi nach Hause. Nachdem er geduscht hat, zieht er seinen dunkelgrauen Anzug an und das frisch gebügelte, weiße Hemd, sucht aus dem Schrank eine passende Krawatte und steht zufrieden vor dem Spiegel. Nabils Verlobung mit Suhaila findet im Sheraton Hotel statt. Damit soll der Familie der Auserwählten gezeigt werden, wie viel wert ihre Tochter dem zukünftigen Ehemann ist.
Ibrahim ist nicht in der Stimmung, zu der Feier zu gehen, aber er hat keine andere Wahl, wenn er seinen Freund nicht beleidigen will. Also macht er sich auf den Weg.
Das Sheraton Hotel liegt im Zentrum, direkt am Nil und die Fahrt dauert fast eine Stunde.
Der Taxifahrer quält sich durch die verstopften Straßen der Kairoer Innenstadt.
Die Hitze in dem Wagen ist unerträglich. Ibrahim wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Er kurbelt das Fenster hinunter und sieht hinaus auf die Straße.
Irgendwo zwischen den vielen Menschen, die jetzt unterwegs sind, ist auch Warda.
Die meisten Gäste der Verlobungsfeier sind schon eingetroffen und sitzen an dem ihnen zugewiesenen Platz. Sie warten gespannt auf das junge Paar.
Kleine Mädchen in pastellfarbenen Rüschenkleidern rennen durch den Saal und suchen ihre Mütter. Ein Dutzend Kellner beginnt damit, das Büffet aufzubauen.
Nabil betritt den Raum, an seiner Seite Suhaila, in einem hellgrünen Kleid, das mit tausend Perlen verziert ist. Ihr Haar ist aufwändig frisiert und mit hellgrünen Seidenblumen geschmückt. Sie schreiten durch den Saal und nehmen am Kopfende der großen Tafel Platz.
Nabils Vater begrüßt die Gäste und heißt Suhaila in seiner Familie willkommen.
Dann wird das Büffet eröffnet.
Im Nu herrscht ein dichtes Gedränge.
Ibrahim beobachtet seinen Freund und Suhaila, die wie eine Puppe auf ihrem Stuhl sitzt und lächelt. In Ägypten ist das Wort für Braut und Puppe identisch - Arousa.
Er denkt wieder an Warda, sieht sie vorne auf dem Stuhl sitzen, in einem wunderschönen Kleid mit gleichfarbigen Rosen und hochgesteckten Locken. Sie strahlt.
Ibrahim greift in die Tasche seines Jacketts. Dort liegt der Armreif, den er seit Wochen für sie zurück gelegt hat. Er weiß nicht, warum er ausgerechnet auf die Idee gekommen ist, ihn als Geschenk für Suhaila mitzunehmen.
Nach zwei Stunden haben sich die Gäste satt gegessen.
Die Kellner tragen das Geschirr hinaus und bringen neue Gläser.
Dort, wo vorher das Büffet gestanden hat, wird jetzt eine kleine Bühne aufgebaut.
Die Musiker betreten den Saal. Nabils Vater kündigt stolz eine Bauchtänzerin an.
Er hat sich die Verlobungsfeier seines ältesten Sohnes einiges kosten lassen.
Die Gäste sollen sich wohlfühlen und noch lange von dem wunderschönen Abend sprechen.
Das Licht geht aus. Scheinwerfer werden auf die Bühne und auf das junge Paar gerichtet.
Die Musiker beginnen zu spielen. Einige Gäste stehen auf und tanzen. Die Stimmung ist ausgelassen.
Zwischendurch bringen die Kellner neue Getränke und entfernen die leeren Flaschen von den Tischen. Ibrahim sitzt immer noch auf seinem Platz und unterhält sich mit seinen Tischnachbarn. Es sind Schulfreunde von Nabil, die aus Alexandria und Port Said gekommen sind. Sie sprechen über die staubige Hitze in Kairo und den Vorteil, direkt am Mittelmeer zu wohnen. Das rhythmische Klimpern der Zimbeln lässt die Männer verstummen.
Eine Tänzerin in einem enganliegenden, gold-grünen Kleid erscheint auf der Bühne.
Die Gäste klatschen und einige Männer werfen begeisterte Zwischenrufe in den Saal.
Ibrahim ist fasziniert von den grazilen Bewegungen der jungen Tänzerin und verfolgt mit seinem Blick jeden ihrer Schritte. Ihr Gesicht wird von einem Schleier verdeckt, ebenso wie das lockige Haar, das ihr bis über die Hüften reicht. In dem Moment, als sie mit einer geschickten Handbewegung ihr Antlitz entblößt und den Stoff auf den Boden gleiten lässt, erstarrt Ibrahim.
Wochenlang hat er darauf gewartet, sie endlich wieder zu sehen. Sie flirtet, aber ihr Blick gilt nicht ihm. Warda kokettiert mit den Gästen und erkennt ihn in der Menge nicht.
Wahrscheinlich hat sie ihn längst vergessen. Trotzdem schlägt sein Herz höher.
Er wird nach ihrem Auftritt vor der Tür auf sie warten.
Dieses Mal darf er sie nicht einfach gehen lassen.
Warda hat die Bühne verlassen und tanzt an den Stuhlreihen vorbei durch den Saal.
Ibrahim ist nervös. Er kann noch nicht glauben, dass es wirklich Warda ist, die in dem verführerischen Kleid vor den Gästen tanzt und anerkennende Pfiffe von den Männern erhält.
Ibrahim ignoriert die anzüglichen Bemerkungen von Nabils Freunden.
"Hübsches Weib, nicht wahr?" Der junge Mann neben ihm lacht und ruft Warda etwas zu.
Sie bewegt gekonnt ihre Hüften zum Rhythmus der Trommeln und lässt sich von den Gästen feiern. Ibrahim erträgt die Blicke der Männer nicht länger und verlässt den Saal, um vor der Tür auf Warda zu warten. Er möchte mit ihr reden und sie bitten, einmal mit ihm ins Kino zu gehen oder sich mit ihm zu treffen, egal wo.
Auf einem Stuhl neben der Tür steht eine Reisetasche und ein Schminkkoffer. Darüber liegt ein dunkelgrünes, goldbesticktes Cape. Ein kleines Mädchen läuft in der Empfangshalle herum und versteckt sich hinter einer Sitzgruppe.
"Komm bitte her, Jasmin. Deine Mutter ist gleich fertig und dann fahren wir nach Hause."
Die Musiker in dem Saal haben aufgehört zu spielen. Die Tür wird geöffnet und die Tänzerin kommt heraus. Ibrahim legt ihr das Cape über die Schultern. Sie bedankt sich, ohne ihn anzusehen.
"Warda!"
Sie dreht sich um. "Sie kennen meinen richtigen Namen. Sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?"
Er ist ein wenig enttäuscht, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnern kann.
"Ach, Sie sind der nette Juwelier, nicht wahr? Jetzt fällt es mir wieder ein."
Sie lächelt.
"Ich habe jeden Tag auf Sie gewartet."
Seine Stimme klingt beinahe vorwurfsvoll.
"Ich werde Sie in den nächsten Tagen in Ihrem Geschäft besuchen", antwortet sie, "und einen Tee mit Ihnen trinken. Doch jetzt muss ich gehen."
Sie greift nach ihrer Reisetasche, in der sich noch zwei weitere Tanzkostüme befinden.
Ibrahim kommt ihr zuvor. Einen Moment stehen sie sich gegenüber.
Er würde sie am liebsten in den Arm nehmen und küssen.
Stattdessen holt er aus der Tasche seines Jacketts den kleinen Samtbeutel mit dem Armreif und überreicht ihn Warda.
"Nehmen Sie ihn. Er hat mir Glück gebracht und mich wieder zu Ihnen geführt. Vielleicht wird er mir auch noch meinen nächsten Wunsch erfüllen. Aber das liegt jetzt allein in Ihrer Hand."
Sie bedankt sich und steckt den Samtbeutel in ihren Schminkkoffer.
"Mami, Mami. Kommst du denn jetzt?"
Das kleine Mädchen hat sich erneut losgerissen, kommt auf die beiden zu und fällt Warda um den Hals.
"Ja, mein Schatz. Wir fahren sofort nach Hause zu Tante Karima."
Sie gibt ihrer Tochter einen Kuss und bittet sie, bei dem Kindermädchen auf sie zu warten.
Ibrahim schaut dem Kind hinterher.
"Jasmin hat keinen Vater", sagt sie schnell, während er ihr Gepäck zum Ausgang bringt und sich von ihr verabschiedet. Dann steigt Warda mit ihrer kleinen Tochter und dem Kindermädchen in ein Taxi und fährt davon.
Ibrahim bleibt eine Weile vor dem Hotel stehen und blickt hinüber zum Nil.
Er denkt an Nabils Worte.
"Sie lebt in einer anderen Welt, Ibrahim... Such' dir ein Mädchen aus unserem Viertel. Warda wird dich nur unglücklich machen."
Doch er ist zum ersten Mal in seinem Leben richtig verliebt und wird jeden Tag in seinem Geschäft auf sie warten.


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