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Schwesters Tagebuch
© Beate Muschalla
erster Tag im ersten Monat der Aussaat.
Mit jedem Tag, der verrinnt, wird die Sichel des Mondes voller und die Unruhe
größer. Es ist eine schlechte Rastlosigkeit, die mein Ka von meinem Herzen
spaltet. Ich weiß nicht, wer ich bin und wohin ich gehen soll. Mein Alltag
hält mich fern von Grübeleien, doch des Nachts befallen wirre Gedanken mein
gespaltenes Herz. Ich sitze auf dem Dach unseres Hauses, während ich dies
mit meinen eigenen Fingern schreibe. Die Glut des Tages hat sich kaum
verloren. Meine Mutter liegt im Schlaf neben meinen beiden jüngeren Brüdern.
Mein Vater kehrte aus dem Krieg nicht zurück. Ich gehe des Tags meiner
Mutter in der Bäckerei zur Hilfe. Sie lobt meine Geschicklichkeit beim
Zubereiten des Brotteiges und Formen der Gebäckstücke. Ich verrichte meine
Aufgabe zur Zufriedenheit aller Dorfbewohner, doch macht sie mich nicht
froh. Ich bin in meinem siebzehnten Sommer, und Mutter beginnt von meiner
Heirat zu sprechen. Der junge Handwerkersohn des Nachbarn will mein Gefährte
werden. Ich mag ihn nicht. Er ist grob und ungebildet. Doch seine Familie
besitzt alle guten und schönen Dinge.
Ich sehne die Zeit zurück, in der ich mit meinen Brüdern die Tempelschule
besuchen durfte.
Ich zählte fünfzehn Sommer, war fast aufgestiegen zu den besten der
Tänzerinnen. Wir arbeiteten viel. Wir fertigten Kopien der geheimen Rezepte,
wir probten für die Festtänze, wir behandelten die Stoffe und wir brauten
die Geruchswasser. Das wahre Geheimnis des Tempels blieb uns Tänzerinnen
verborgen. Wir fragten nicht. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens.
Nie zweifelte ich an meiner Bestimmung. Doch dann änderte Re seine Bahn. Die
Heimkehr meines Vaters in sein Haus des Westens zwang mich ins Dorf zurück.
Ich musste all meine Freuden hinter mir lassen. Ich war im Dorf immer anders
als die anderen Mädchen. Wenn sie kichernd zusammengluckten und sich über
die Jungen der Stadt unterhielten, verstand ich sie nicht. Wenn sie lachten
über meine Schriftzeichen im Sand, verstanden sie mich nicht. Keine war wie
ich in die Tempelschule gegangen. Keine kannte das Vergnügen, das der Zugang
zur Schrift bereite. Aber alle kannten sie das Vergnügen, mit Jungen zu
schlafen. Als der junge Schreiber Seni mit seinem Vater aus der Stadt zu uns
ins Dorf hinauskam, wetteiferten sie alle um seine Gunst. Doch er nahm keine
von ihnen. Er wollte die einzige einsame Schreiberin. Doch vermochte sie ihm
nicht zu geben, was ihm Hunderte andere Mädchen hätten geben wollen. Dann
folgte er dem Ruf seines Vaters, des königlichen Heerverwalters, und ging
zum Militär.
Vor einem Zehntag kehrte Seni zurück in unser Dorf. Er ist ein Mann geworden
in den zwei Jahren, die ich ihn nicht sah. Der Dienst beim Militär hat seine
Muskeln gestählt und seine Sinne geschärft. Er hat bereits einige Titel
erlangt, doch ist sein Wesen so bescheiden wie zu jeder Zeit, die ich ihn
kannte. Er hat viele Menschen getroffen, doch hat niemand seinen Charakter
zu wandeln vermocht. Er ist weit gereist auf einigen Feldzügen im Dienste
des Pharao, doch hat kein Ort seine Liebe so sehr zu binden vermocht wie die
Stadt seiner Heimat. Wir trafen uns des Morgens in den ersten Strahlen Res
am Ufer des Flusses. Ich schöpfte Wasser. Er trug seine Kleider zum Waschen.
Wir blickten uns in die Augen ohne Worte. Er trat zu mir heran ohne ein
Wort. Er erkannte seine Schwester. Ich erkannte meinen Bruder. Ich stand vor
ihm ohne ein Wort. Wir wussten: in zwei Jahren war nichts geschehen.
Ich verbrachte den Tag in Schweigen. Mutter schalt mich lustlos und
unfreundlich, die Kunden sahen mich seltsam an. In meinem Bauch begann
wieder der Kampf, der damals begonnen hatte, den ich hatte vergessen wollen.
Er ist entflammt im Zwiespalt meiner Gedanken an die Götter und die
Menschen. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.
letzter Tag im ersten Monat der Aussaat.
Mein Herz hat einen Monat im Nachdenken verbracht. Mein Entschluss steht nun
fest. Ich gehe nach Dendera in den Tempel der Hathor. Mutter versteckt ihre
Tränen, aber ich muss tun, was ich tun muss. Ich werde zurückkehren, wenn
ich meine Fragen beantwortet weiß. Ich vertraue auf die Hilfe meiner Göttin.
Das Gefühl der Zwiespältigkeit hat mich nicht verlassen. Ich werde im Tempel
der Hathor einen Monatsdienst leisten als Tänzerin. Mein Herz verlangt nach
Einsamkeit, die mich zur Entscheidung führen wird. Ich will suchen, was
meine Bestimmung sein soll im Leben. Ich will finden, ob ich als Frau eines
Handwerkers eine Familie ernähren soll, ob ich meiner Mutter
Bäckereihandwerk fortführen soll oder ob ich für einen Dienst für die Göttin
im Tempel bestimmt bin.
Ich warte auf ein Zeichen meiner Göttin.
zwölfter Tag im zweiten Monat der Aussaat
Mein erster Zehntag im Hathor-Tempel in Dendera neigt sich seinem Ende
entgegen. Selten habe ich bislang Ruhe gefunden, mein Herz der Göttin zu
öffnen. Ihr Erscheinen lässt auf sich warten. Mein Tagwerk gleicht
demjenigen, das ich in meiner Heimatstadt so liebte. Ich fühle die Nähe zu
meiner Göttin bei allen Tätigkeiten, die ich verrichte. Doch noch zeigte sie
mir nicht ihre Gestalt. Des Morgens nach dem Schwimmen im heiligen See
begrüße ich die ersten Strahlen Res mit einem Sonnentanz. Jeden Tag aufs
Neue erhoffe ich mir das Erscheinen Hathors, doch sie hüllt sich in
Unkenntlichkeit. Die heißen Stunden des Mittags verbringe ich allein in der
Bibliothek. Ich fertige Abschriften der alten Geheimrezepte für die
Herstellung der Salben und Tränke. Ich möchte nun selbst mehr als die Kunst
der Zubereitung dieser Dinge erlernen. Ich möchte die Geheimnisse für die
Anwendung dieser Gebräue beherrschen, die mir als Mädchen in der
heimatlichen Tempelschule verborgen geblieben sind. Morgen bitte ich den
Priester um die Einteilung zu einem solchen Dienst.
dreizehnter Tag im zweiten Monat der Aussaat
Ich sprach mit dem Priester. Er versagte mir meinen Wunsch. Ich fragte nach
dem Grund. Den Grund wisse nur die Göttin, den könne er mir nicht sagen.
letzter Tag im zweiten Monat der Aussaat
Ich habe die Botschaft vernommen. Am heutigen Morgen offenbarte sich mir
Hathor. Stets erwartete ich, sie würde sich mir in ihrer sichtbaren Gestalt
zeigen. Doch heute begriff ich, dass sie zu jeder Zeit bei mir gewesen war.
Stets hatte ich ihre Stimme überhört. Ich tanzte den letzten Tanz für meine
Göttin vor Sonnenaufgang. Als sich die ersten Strahlen Res über den Horizont
erhoben und ich geblendet die Lider schloss, vernahm ich den Schrei des
Benu-Vogels. Ich öffnete die Lider und goldener Blitz vom Pyramidenstein des
Obelisken traf mein Auge. Der Vogel schrie. Die Rassel klapperte neben
meinem Ohr. Hathors Stimme klang aus dem Sistrum, das meine Hand in Kreisen
schwang. "Du hast deinen Dienst erfüllt. Du hast die Wahrheit geschaut. Du
hast die Geheimnisse des Tempels erfahren wollen. Nun hast du die zwei
Seiten deines Lebens erfahren, die du erfahren musstest. Du kennst das Wesen
der Menschen und das der Göttin. Nun bist du reif, deine Entscheidung zu
treffen, die dein Ka mit dir vereinen wird."
Ich habe vieles gelernt. Es gibt Dinge, die man aus dem Handeln kennt und
die man im Handeln wiederholt. Es gibt Dinge, die man mit dem Herzen kennt
und die man im Handeln offenbart. Und es gibt Dinge, die man nicht im
Handeln offenbaren kann, weil man sie nur mit halbem Herzen kennt.
Ich werde nun heimkehren und mich den Dingen widmen, die mein Ka mit meinem
Herzen verbrüdern werden. Doch wann immer es danach schreit, seine Flügel
auszubreiten, so werde ich es fliegen lassen. Ich vertraue seiner Rückkehr.
Ich werde das Handwerk meiner Mutter fortführen. Wenn mein Ka in flattrige
Stimmung gerät, werde ich im heimischen Tempel Dienst tun für unseren
Stadtgott. Ich werde Seni wieder begegnen und werde bereit sein, ihm mit
ganzem Herzen entgegenzutreten.
Ich habe für diesen Augenblick erkannt, wer ich bin und wohin ich gehen
muss. Zuweilen werde ich an Wegkreuzen rasten und die Not der Entscheidung
durchleben. Doch stets wird sie geleitet sein durch den Willen meines ganzen
Herzen, und Res Strahlen weisen mir die Richtung zum unerreichbaren goldenen
Ziel.
Die Sichel des Mondes hat in dieser Nacht ihre schmalste Gestalt angenommen
und wird sich wieder wandeln, wie sie es immer getan hat. Die Unruhe, die
mich heute befällt, drängt mich heim. Es ist eine gute Rastlosigkeit, die
mein flatterndes Ka in mir bereitet. Ich habe erfahren, wer ich sein kann
und wohin ich gehen kann. Und ich werde immer wissen, dass ich die
Wegrichtung ändern kann.
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