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Augenblick
© Thomas Rensolk
Am 12. Dezember des Jahres 2002 sitzt K. auf der Dachterrasse des Hotels ‚De Foucauld' in der Medina von Marrakesch, tief versunken in die Betrachtung des erleuchteten Minaretts der nahe gelegenen Kutubiya-Moschee. Das über viele Jahrhunderte höchste Bauwerk des Maghreb scheint von innen heraus zu strahlen, als sei es mit einem glühenden Brikett gefüllt, und am Himmel steht der halbvolle Mond und ein einsamer weißer Vogel, vermutlich ein Storch und möglicherweise vom nahen El-Badi-Palast, quert sein Blickfeld
und scheint Richtung auf den Mond zu nehmen. Es ist genau 22:22 Uhr.
Die Terrasse ist um diese Jahreszeit nicht bewirtschaftet und K. ist augenscheinlich allein, umgeben nur von zusammengewürfelten Rundtischen und metallenen Stuhlskeletten, denn wegen des Regens der vergangenen Tage hat man die Sitzpolster in Sicherheit gebracht. Er hat sich aus der Neustadt mit dem Taxi eine Flasche Pastis und eine Flasche stillen Wassers kommen lassen und trinkt verdämmernd den mit Wasser verdünnten Anislikör aus dem Zahnputzglas seines Hotelzimmers. Die rhythmischen Klänge vom Platz Djemaa
el Fna mischen sich mit dem schrillen Lärm des Straßenverkehrs in der Rue Mouahidine und verschmelzen zunehmend zu einer gleichförmigen Geräuschkulisse, die sich mit leichtem Flügelschlag sacht entfernt.
Er genießt den warmen und sanften und stetigen Wüstenwind hier oben, den niemand vergessen kann, der ihn einmal kennen gelernt hat. Es ist ein Wind, der einen spüren lässt, was für einen langen und freien Weg er schon hinter sich hat. Und K. fragt sich, was das wohl für eine Strömung ist, die die Menschen des Djemaa an diesem Ort zusammengeführt hat, um dort seit Generationen ein gleichartiges Schauspiel mit sich abwechselnden Darstellern und vor sich abwechselndem Publikum aufzuführen, - wie der Wind, der manches
aufsammelt in den Gassen und Gässchen der Suqs, bis diese sich zu einem Platz öffnen und er seine Fracht dort ablädt.
K. lässt jetzt die Darsteller in einer Reihe sich formieren, die Musikanten und die Akrobaten, die Märchenerzähler und die Zauberer, die Wunderverkäufer und die Weissager, die Zahnausreißer und die fliegenden Händler, die Schlangenbeschwörer und die Garköche, die Bettler und die Schlepper und die Nutten und die Strichjungen, und sieht ihnen zu, wie sie aus der Stadt hinaus in die Wüste marschieren und in einer schmalen, aber ununterbrochenen Kolonne den Weg des Windes nehmen, denn einen anderen Weg gibt es nicht.
Dort treffen sie auf die Führer der Karawanen, die in langer Reihe vor dem unablässigen Wind gleichmütig zum Ende der Welt stapfen. In einer anderen Spur schnürt der nicht enden wollende Zug der Kamele in die gleiche Richtung. In der Ferne wandern die Planen über den Garküchen am Djemaa vorbei und schlagen mit ihren Gestängen und Seilen exzentrische Räder, aber darein mischen sich auch die Planen der Beduinenzelte und die der Lastwagen auf ihren einsamen Wegen durch die Wüste und die der bescheidenen Verkaufsstände
an den Raststätten für die Lastwagen auf ihren einsamen Wegen.
Aber dann, dann, dann nimmt er endlich auch den Sand wahr, der zwischen all den endlosen Trecks sich fast unmerklich, aber unerbittlich in der gleichen Richtung bewegt, mal schneller, mal langsamer als diese, mal im Gleichschritt mit ihnen. Und wie all die anderen nicht abreißenden Trecks schwappt der Sand zuletzt beständig und unaufhaltsam über die Kante der Welt und deckt alles andere zu, bis da nur noch Sand ist. Und schon bei der Anreise durch das Atlasgebirge hat K. beim Anblick der mächtigen und langsam
in ihrem Schutt ertrinkenden Berge erahnen können, wie gänzlich unerschöpflich dieser Vorrat an Sand ist und für immer sein wird, und dass niemand auf der Welt in der Lage ist, dieser unermesslichen Flut Einhalt zu gebieten.
Er denkt an den eigenen, seinen, Augenblick um 22:22 Uhr. Milliarden von Menschen haben den Mond gesehen und immerhin noch mehrere Millionen das Minarett der Kutubya. Und auch Störche gibt es hier seit langer Zeit, denn nicht wenige von ihnen nehmen ihren Weg zwischen Sommer- und Winterquartier über diese Route.
Aber da ist K. sich sicher: Diesen einen und einen Storch haben gewiss nur wenige beobachtet, jedenfalls nicht in genau dieser Nacht und nicht um eben diese Uhrzeit und schon ganz sicher nicht von dieser menschenleeren Hotelterrasse aus. Er weiß nicht, woher der Vogel kam und wohin er geflogen ist, und beide werden sich nicht mehr wiedererkennen können, aber gewiss gibt es irgendwo ein Weltregister, wo die Identität dieses Lebewesens für alle Ewigkeit gespeichert ist.
Aber, sinniert K. weiter, ist denn ein solches Verzeichnis überhaupt vorstellbar, in dem alles und alles von Anbeginn erfasst ist, der auf der Plane über einer Garküche zerplatzende Regentropfen ebenso wie das vor der roten Stadt ein Stückweit die Düne herab rollende Sandkorn oder auch der flüchtige nächtliche Blick auf einen quadratischen Turm in Nordafrika? Müsste dieses Katalog nicht sehr vieles größer sein als die ganze Welt, aber was kann es noch geben außer eben dieser ganzen Welt?
Und jetzt scheint ihm das Minarett anzuschwellen, als sei es sich mit einem Male all der Blicke bewusst geworden, die es im Lauf von acht Jahrhunderten in sich aufgesogen hat, und es dehnt sich immer weiter nach allen Richtungen aus, bis es leuchtend den ganzen Himmel bedeckt, und aus der vergoldeten Kugel an seiner Spitze formt sich langsam ein goldgelber Tropfen genau über ihm wie das Harz eines urzeitlichen Baumes und wird größer und größer und größer.
Aber K. weicht nicht von seinem Platz. Und als der Tropfen sich endlich von der Kuppel löst, hofft er nur noch, dass dieser ihn vollständig verschlingen möge und nicht für immer verloren ginge, sondern nach Jahrmillionen als Bernstein wiedergefunden würde und daraus etwa der Anhänger für eine goldfarbene Kette entstehen möge.
Und das letzte, was er sich noch zu denken vergönnt, ist die Vorstellung von einem Mädchen, das diesen Anhänger an einer Kette am den Hals tragen würde, so einem Mädchen etwa, wie er es einst scheu verehrt hat, schlank und selbstbewusst und mit langen dunkelblonden Locken und einem dunklen Teint und angetan mit sehr engen schwarzen Kordjeans und einem hellgrünen Rollkragenpullover, und dem er leider nicht mehr würde sagen können, was sie da zwischen ihren Brüsten trägt, nämlich:
Seinen Augenblick von der Dachterrasse des Hotels 'De Foucauld' auf den halbvollen Mond und das Minarett der Kutubiya-Moschee und einen Storch, der Richtung auf den Mond zu nehmen schien, am 12. Dezember des Jahres 2002 um 22:22 Uhr.*)
*) Und weil K. nicht recht weiß, wie dieser märchenhafte Platz geschrieben wird, nach kurzer Recherche im Intranet auf "Djemaa" sich einigt und den Text mit der MS-WORD-Suchfunktion und der Eingabe "DJ" durchsucht, findet er dabei auch wieder die CorDJeans, die sehr eng und hinten hübsch abgenutzt waren und denen er immer wieder heimlich und gerne hinterhergeblickt hatte.
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